Publikationen von Rainer Bölling




IV. Bedarfsorientierte Nachwuchssteuerung - ein unlösbares Problem?

Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, steht die heutige Lehrerarbeitslosigkeit in einer fatalen Kontinuität einander ablösender Überfüllungs- und Mangelphasen. Wenn es also in verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte nicht gelungen ist, ein ausgeglichenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf diesem Teilarbeitsmarkt herbeizuführen, dann stellt sich die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Planung und Steuerung in diesem Bereich noch grundsätzlicher als beim Blick ausschließlich auf die heutige Situation.
Jeder Versuch einer Problemanalyse muß davon ausgehen, daß in unserer Gesellschaft Berufswahlentscheidungen individuell getroffen werden. Hierbei spielt zunächst die persönliche Neigung zum jeweiligen Studiengang, beim Lehramtsstudium ferner zu den Fächern eine wichtige Rolle. Darüber hinaus ist eine Reihe „objektiver“ Kriterien von Bedeutung, wie Länge und Kosten des Studiums, Art und Umfang der Berufsarbeit, zu erwartendes Einkommen, Aufstiegschancen, schließlich auch die Beschäftigungsaussichten.
Diese Faktoren kann der Staat als nahezu einziger Arbeitgeber für Lehrer zwecks Steuerung der Nachwuchsströme beeinflussen, und er hat dies auch immer wieder getan. So sind in Phasen des Lehrermangels die Qualifikationsanforderungen gesenkt, in Überfüllungsphasen dagegen angehoben worden. Nicht zuletzt haben durchgreifende Verbesserungen der Lehrerbesoldung in Mangelphasen stattgefunden (Anfang des 20. Jahrhunderts, 1960er Jahre), als es galt, dem Lehrerberuf im Vergleich zu anderen Berufen mit ähnlich anspruchsvoller Vorbildung finanzielle Attraktivität zu verleihen.
Die einmal geschaffene Attraktivität eines Berufes hat nun leicht einen alle Planungen überschreitenden Sogeffekt zur Folge, dessen Dynamik nicht mit denselben Mitteln zu kontrollieren ist. Da die in der Zeit des Mangels u. a. als Steuerungsinstrument dienenden materiellen Gratifikationen anschließend dem Primat der Besitzstandswahrung unterlieg en, muß die bei einem bevorstehenden Umschlag der Arbeitsmarktlage gebotene Gegensteuerung im wesentlichen durch Warnungen vor Aufnahme der Berufsausbildung erfolgen. Das war auch die Funktion der von den Kultusbehörden seit 1974 veröffentlichten Prognosen, die für die achtziger Jahre ein immenses Überangebot an Lehrern voraussagten.
Schon damals kritisierte jedoch ein intimer Kenner der Bürokratie, daß die amtlichen Warnungen zu spät gekommen seien, um die sich anbahnende Überfüllung zu verhindern.[23] Er verwies darauf, daß das Problem bereits gegen Ende der sechziger Jahre im nordrhein-westfälischen Kultusministerium erkannt worden sei, eine entschiedene Gegensteuerung jedoch erst 1974 eingesetzt habe. So berechtigt diese Kritik an den kurzfristige Erfolge anstre­benden und daher unpopuläre Maßnahmen scheuenden Politikern rückblickend erscheint, läßt sie doch eine Frage offen: Wieweit hätten die Schlußfolgerungen aus den auf Statistiken gegründeten und deshalb vielen Menschen ohnehin verdächtigen Prognosen einer auf Bildungswachstum eingestimmten Öffentlichkeit unter den Bedingungen anhaltenden Lehrer­mangels überhaupt vermittelt werden können?
Ein grundsätzliches Problem solcher Prognosen besteht darin, daß sich der gesellschaftliche Bedarf an Lehrern (und anderen qualifizierten Berufen) nicht „objektiv“ bestimmen läßt, sondern Ausdruck pädagogischer, bildungs- und finanzpolitischer Zielsetzungen ist. Das zeigte sich schon in den Auseinandersetzungen um den Bildungsgesamtplan und seine Fortschreibung. Den von fiskalischen Rücksichten geprägten Vorausberechnungen der Kultusbehörden setzten wiederum die Lehrerorganisationen - vor allem die GEW - eine Bedarfsprognostik im pädago­gischen Optativ entgegen, welche die finanzpolitischen Spielräume offensichtlich überschätzte. So bot sich den vor der Berufswahl stehenden Abiturienten auf Grund der öffentlichen Diskussion ein widersprüchliches Bild der künftigen Beschäftigungschancen für Lehrer.
Doch selbst wenn es bereits um 1970 einen öffentlich bekundeten Konsens der bildungspolitisch relevanten Kräfte hinsichtlich des künftigen Lehrerbedarfs gegeben hätte, wäre die Lehrerarbeitslosigkeit dadurch allein wahrscheinlich nicht zu vermeiden gewesen. Denn nachhaltigeren Einfluß auf die Berufswahl als noch so solide, aber abstrakt bleibende Prognosen haben oft die unmittelbaren konkreten Erfahrungen der Individuen. Das mußten schon die Statistiker des Philologenverbandes während der „Scheinkonjunktur“ der zwanziger Jahre resigniert feststellen.[24] Der gleiche Trugschluß wie damals kehrt in der Äußerung eines Studenten der siebziger Jahre wieder, wonach die amtlichen Warnungen 1975 „angesichts des riesigen Unterrichtsausfalls und der Tatsache, daß seinerzeit viele Kommilitonen stundenweise in der Schule arbeiteten, wenig glaubhaft“ wirkten.[25]
Der Rückgang der Lehramtsstudentenquote seit Mitte der siebziger Jahre belegt nicht zwingend die Wirksamkeit der amtlichen Prognosen, denn er läßt sich ebenso auf die schon bestehende und von Jahr zu Jahr steigende Lehrerarbeitslosigkeit zurückführen. Andererseits deuten empirische Untersuchungen unter Lehramtstudenten der späten siebziger Jahre darauf hin, daß viele dieses Studium als Notlösung betrachteten und den Beschäftigungsaussichten keine entscheidungsrelevante Funktion zukommt.[26] Dafür spricht auch, daß die Studien­anfängerquote seit langem deutlich höher liegt, als es die bei den Abiturientenbefragungen ermittelten Studienabsichten erwarten ließen. Dieser Sachverhalt wird allerdings dadurch relativiert, daß bei steigender Akademikerarbeitslosigkeit Studienalternativen mit guten Beschäftigungsaussichten immer rarer werden.
Angesichts der begrenzten Wirkung von Arbeitsmarktprognosen drängt sich die Frage auf, ob nicht durch rechtzeitig vorgenommene Zulassungsbeschränkungen für Lehramtsstudiengänge die heutige Misere hätte verhindert werden können. Ein Numerus clausus wäre jedoch auf rechtliche Hindernisse gestoßen, denn 1972 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß sich der Ausbau der Hochschulen grundsätzlich an der privaten Bildungsnachfrage zu orientieren habe und Zulassungsbeschränkungen nur unter völliger Ausnutzung der Kapazitäten zulässig seien.[27]
Unter dieser Voraussetzung hätte ein Numerus clausus keine arbeitsmarktkonforme Nachwuchssteuerung bewirken können., Zudem wären dazu fächerspezifische Bedarfszahlen erforderlich gewesen, die noch schwerer als der Gesamtbedarf zuverlässig vorauszuberechnen sind. Schließlich hätten selbst Zulassungsbeschränkungen mit optimaler Steuerungswirkung in bezug auf Lehramtsstudiengänge unter den Bedingungen steigender Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit keine wirkliche Problemlösung bedeutet, sondern lediglich eine Problemverlagerung. Diese hat durch das Ausweichen vieler potentieller Lehramtsstudenten auf die neu eingerichteten Magister-Studiengänge in den Geistes- und Sozialwissenschaften mittlerweile auch so stattgefunden.

V. Strategien zur Umverteilung des Arbeitsvolumens

Angesichts der seit Beginn der achtziger Jahre schnell wachsenden Lehrerarbeitslosigkeit sind in den letzten Jahren Maßnahmen zur Diskussion gestellt worden, die durch eine kostenneutrale Umverteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens wenigstens einem Teil der arbeitslosen Lehrer eine Beschäftigung in der Schule ermöglichen sollen.[28] Dazu ist vorab zu bemerken, daß der Begriff der „Kostenneutralität“ allein auf die Personalkosten der öffentlichen Haushalte bezogen wird und die materiellen Kosten von Arbeitslosigkeit (Arbeitslosengeld bzw. -hilfe, Sozialhilfe, Steuerausfall, Nachfrageausfall) nicht berücksichtigt.
Einen umfangreichen Maßnahmenkatalog hat im Februar 1982 der damalige nordrhein-westfälische Kultusminister Girgensohn der Kultusministerkonferenz vorgelegt.[29] Besonders sein erster Vorschlag, der von Girgensohns Nachfolger Schwier 1984 erneut in die Diskussion gebracht wurde, hat in der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit große Beachtung gefunden. Er sah vor, die Pflichtstundenzahl aller Lehrer um eine Wochenstunde zu senken und proportional dazu die Bezüge um 4-5 % zu kürzen. Dadurch sollten in Nordrhein-Westfalen 6.000-7.000, im gesamten Bundesgebiet 18.000‑20.000 Lehrerstellen ohne zusätz­lichen Besoldungsaufwand geschaffen werden können.
In der organisierten Lehrerschaft ist dieser Vorschlag auf Ablehnung gestoßen, da er eine Zwangsmaßnahme darstellt und eine Zustimmung dazu die seit einem Jahrzehnt im Raum stehende Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich konterkarieren würde. Allerdings hat er auch Befürworter gefunden, denen die Solidarität mit den arbeits­losen Kollegen schwerer wog als durchaus begründete tarifpolitische Bedenken[30], wonach die Beschäftigungswirksamkeit der Maßnahme einer haushaltsrechtlichen Absicherung bedurft hätte, die nur schwer zu erreichen ist. Die erforderliche Änderung des Besoldungsrechts müßte nämlich vom Bund ausgehen, während die Regelung der Pflichtstunden und die Entscheidung über die Zahl der Planstellen in die Kompetenz der Länder fällt. Schließlich sind auch vorfassungsrechtliche Bedenken gegen den Girgensohn/Schwier-Plan laut geworden, der heute keine Realisierungschancen mehr besitzt. Ein ähnliches Schicksal hatte ein solches Modell schon 1931, als es der preußische Kultusminister Grimme in einer vergleichbaren Arbeits­marktsituation zur Diskussion stellte.[31]
Weniger umstritten als dieser Vorschlag zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit ist die Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Schon seit längerem können Beamte sich mit Vollendung des 62. Lebensjahres auf Antrag vorzeitig in den Ruhestand versetzen lassen. In Nordrhein-Westfalen macht bereits mehr als die Hälfte aller Lehrer von dieser Möglichkeit Gebrauch. Eine weitere Herabsetzung der Altersgrenze für eine freiwillige Pensionierung erscheint durchaus möglich und sinnvoll, hätte aber wohl nur einen begrenzten Beschäftigungseffekt, wenn damit eine Reduzierung von Versorgungsansprüchen verbunden wäre.
Größere beschäftigungspolitische Wirkungen könnten von einer generellen Senkung der Ruhestandsgrenze ausgehen, die jedoch aus demselben Grunde beamten- und verfassungs­rechtliche Probleme bereiten würde, und zwar um so mehr, wenn sie allein für Lehrer verfügt würde, wie es 1931 in Preußen der Fall war. Schließlich ist zu beachten, daß unter dem Postulat der Kostenneutralität nur der Unterschiedsbetrag zwischen Gehalt und Ruhegehalt für Neuanstellungen zur Verfügung stunde.
Der größte beschäftigungspolitische Effekt geht heute von der Ausweitung der Teilzeitarbeit aus. Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür sind schon seit 1980 geschaffen und 1984 erweitert worden, wobei die Lehrerarbeitslosigkeit ein wesentliches Motiv darstellte. Lehrern kann jetzt auf Antrag nicht nur aus familiären, sondern auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen eine Teilzeitbeschäftigung bewilligt werden, und zwar bis zu zehn Jahren. Für eine Umsetzung dieser gesetzlichen Möglichkeit bietet die Arbeitsorganisation in der Schule relativ günstige Voraussetzungen, wenngleich nicht übersehen werden darf, daß sich der Gesamtarbeitsaufwand zumeist nicht im gleichen Maße verringert wie die Pflichtstundenzahl, die bis auf die Hälfte herabgesetzt werden kann.
Die hohe Zahl von verheirateten Lehrerinnen und Lehrerehepaaren läßt die Teilzeitregelungen besonders beschäftigungswirksam werden. 1984/85 waren in der Bundesrepublik fast 138.000 Lehrkräfte teilzeitbeschäftigt (5,5 % der Lehrer und 40,5 % der Lehrerinnen), wobei sich der Arbeitsmarkteffekt auf über 40.000 volle Stellen belief.[32] Darin sind allerdings auch die Fälle unfreiwilliger Teilzeitarbeit enthalten, die sich daraus ergeben, daß jungen Lehrern seit Jahren überwiegend nur noch Zwei-Drittel-Beschäftigungsverhältnisse angeboten werden. Eine längerfristige Personalbestandsplanung wird bei freiwilliger Teilzeitarbeit dadurch erschwert, daß die Betreffenden nach Ablauf der Fristen wieder Anspruch auf einen Vollarbeitsplatz haben und ein Ausgleich des Arbeitsvolumens durch Neuanträge nicht gewährleistet ist. Deshalb kommt es nur in geringem Maße zu Neueinstellungen im Beamtenverhältnis oder auf der Basis unbefristeter Angestelltenverträge. Vor allem aber gibt es keine haushaltsrechtlichen Bestimmungen, die sicherstellen, daß die eingesparten Personalmittel. überhaupt für Neueinstellungen verwendet werden. Dasselbe Problem besteht bei Beurlaubungen, die bis zu neun Jahren möglich sind.

VI. Alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für Lehrer

Neben Maßnahmen zur Umverteilung des Arbeitsvolumens in der Schule sind in den letzten Jahren auch alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für Lehrer diskutiert bzw. erprobt worden.[33] Aus diesem Spektrum erscheint der Vorschlag einer freien Niederlassung nach dem Vorbild von Ärzten, Rechtsanwälten usw. nicht nur wegen des völlig unsicheren Beschäftigungseffekts problematisch. Auch eine befristete Lehrtätigkeit im Ausland kommt nur für wenige Lehramtsabsolventen mit bestimmten Fächern als Alternative in Frage. Von größerer Bedeutung sind Projekte, die durch Umqualifizierungsmaßnahmen die Beschäftigungsmöglichkeiten von Lehrern in der privaten Wirtschaft erhöhen sollen.
Zwei davon haben bisher besondere Beachtung gefunden.

·        Zum einen handelt es sich um den Modellversuch „Fernunterricht für arbeitslose Absolventen von Lehramtsstudiengängen zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit als mittlere Führungskraft in der Wirtschaft auf der Grundlage ihres Studiums“, den die Wirtschafts­akademie für Lehrer e. V. in Bad Harzburg 1983 begonnen hat. Sein Ziel ist es, arbeitslosen Lehrern eine für die Wirtschaft attraktive zusätzliche Qualifikation zu vermitteln, die es ermöglicht, auch die im Studium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten einzubringen. Die Kosten der einjährigen Umschulung, die mit einer öffentlich-rechtlichen Prüfung abschließt. trägt die Bundesanstalt für Arbeit, sofern der Teilnehmer anschließend wenigstens drei Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist. Von den 450 Absolventen der ersten drei Jahrgänge haben nach Angaben der Akademie 350 einen Arbeitsplatz in der Wirtschaft gefunden, wobei allerdings Status und Qualifikationsmerkmale der Beschäftigungsverhältnisse unklar sind. Mit Hochschulabsolventen, die ein Diplom in Volks- oder Betriebswirtschaftslehre mitbringen, werden die Prüflinge freilich kaum konkurrieren können.

·        Eine starke Praxisorientierung zeichnete einen 1982 bis 1984 vom Institut der deutschen Wirtschaft durchgeführten Modellversuch aus, der vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft finanziell gefördert wurde. Sein Prinzip bestand darin, Lehramtsabsolventen für ein Jahr auf betriebliche Arbeitsplätze zu vermitteln und durch „training on the job“ umzuqualifizieren. 28 Unternehmen hatten 78 Praktikantenplätze zur Verfügung gestellt, von denen jedoch nur 35 besetzt werden konnten. Von 163 an Vorstellungsgesprächen in den Unternehmen teilnehmenden Bewerbern wurden nämlich 35 von den Betrieben nicht akzeptiert, während 93 die angebotene Stelle ablehnten. Dabei ist zu berücksichtigen. daß es sich um befristete Praktikantenplätze (ein Jahr) mit einer monatlichen Vergütung von 1500 DM handelte, die häufig einen Ortswechsel erforderten. Nach Abschluß des Modellversuchs fanden 28 Teilnehmer einen Arbeitsplatz in der privaten Wirtschaft, 23 davon im gleichen Unternehmen.[34] In Anbetracht der niedrigen Zahlen kann das Projekt keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben. Ein wichtiges Ergebnis ist aber die Erkenntnis, daß die Wirtschaft vorwiegend Absolventen mit einem intensiven Fachstudium (Lehramt für Sekundarstufe II) ‑ besonders im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich ‑ sucht, wogegen der pädago­gisch-didaktischen Kompetenz geringere Bedeutung beigemessen wird. Aus diesem Grunde bleibt es für einen großen Teil der arbeitslosen Lehrer äußerst schwierig, ihrer Qualifikation angemessene Arbeitsplätze in der privaten Wirtschaft zu finden.

VII. Ausblick

Der Blick auf die Entwicklung des Lehrerarbeitsmarktes seit dem 19. Jahrhundert zeigt, daß die heutige Arbeitslosigkeit nicht allein als Folge einer ökonomischen und finanzpolitischen Krise zu begreifen ist, sondern wesentlich aus einer dem Rekrutierungs- und Beschäftigungssystem eigenen Dynamik resultiert. Ist der Arbeitsmarkt für Akademiker wegen des langen Zeitraums, der zwischen individueller Studienwahl und Berufseintritt liegt, ohnehin in spezifischer Weise krisenanfällig, so wird dieses Problem beim Lehramt durch demographische Faktoren noch verschärft.
Die historischen Erfahrungen zeigen aber auch, daß der Abschreckungseffekt einer Überfüllung einen erneuten Nachwuchsmangel nach sich zieht, sofern nicht rechtzeitig eine antizyklische Gegensteuerung erfolgt. Wenn über Jahre hin praktisch keine Lehrer angestellt werden, führt das zudem zu einer weiteren Verzerrung in der Altersstruktur der Lehrerschaft, konkret zunächst zu einer „kollektiven Vergreisung“, wie sie als Folge der letzten Überfüllungskrise die fünfziger und frühen sechziger Jahre kennzeichnete. Deshalb wird heute von verschiedenen Seiten die Forderung nach einem „Einstellungskorridor“ erhoben, was bedeutet, daß ein Teil der in den neunziger Jahren für eine Status-quo-Versorgung erforderlichen Einstellungen vorgezogen werden müßte. Die dazu benötigten Finanzmittel könnten wenigstens teilweise durch einen begrenzten Lohnzuwachsverzicht der im Schuldienst stehenden Lehrer bei tariflich garantierter Arbeitszeitverkürzung aufgebracht werden. Dieses von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vorgeschlagene Modell[35] erscheint um so sinnvoller, als es auch auf anderen Teilarbeitsmärkten zur Lösung bestehender Beschäftigungsprobleme beiträgt.
Ein „Einstellungskorridor“ dient aber nicht nur der Linderung der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit. Er hilft auch Rekrutierungsprobleme zu vermeiden, die demnächst zumindest in bestimmten Fächern daraus erwachsen können, daß die ausgebildeten Lehrer den Bildungsverwaltungen dann nicht mehr in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Wenn auch über ihren Verbleib auf dem Arbeitsmarkt bisher zu wenig bekannt ist[36], ginge doch die Vorstellung fehl, es handele sich bei diesen Lehrern um eine jederzeit verfügbare Reserve.
Solche Überlegungen dürfen allerdings von Abiturienten nicht als pauschale Ermunterung zur Aufnahme eines Lehramtsstudiums verstanden werden, sondern sollen nur die Notwendigkeit einer mittelfristigen Bedarfsplanung auch in der augenblicklichen Situation verdeutlichen. Denn selbst wenn der säkulare Trend zum Besuch weiterführender Schulen anhält[37], steht fest, daß nach der Jahrtausendwende die Schülerzahl erneut absinken wird. In den nächsten Jahrzehnten kann daher nicht mit einer Expansion des Bildungswesens gerechnet werden, wie sie aus den sechziger und siebziger Jahren noch in Erinnerung ist.

 

[23] Werner E. Spies, Bildungsplanung in der Bundesrepublik Deutschland, Kastellaun 1976, S. 95 ff.
[24]
Vgl. Hartmut Titze, Historische Erfahrungen mit der Steuerung des Lehrerbedarfs, in: M. Sommer (Hrsg.). Lehrerarbeitslosigkeit und Lehrerausbildung, Wiesbaden 1987.
[25]
GEW (Hrsg.), In Sachen: Lehrerarbeitslosigkeit (Anm. 16), S. 25.
[26]
Vgl. Starr (Anm. 1), S. 368.
[27]
Vgl. Pieper (Anm. 9). S. 151.
[28]
Vgl. hierzu Rudolf Husemann, Beschäftigungspolitische Maßnahmen für Absolventen von Lehramtsstudien­gängen, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 34 (1986), S. 178‑198; Starr (Anm. 1), S 375-393. Grundsätzlich kritisch dagegen Klaus-Dieter Schmidt, Zum Problem der Lehrerarbeitslosigkeit, Kiel 1982, S. 20 ff.
[29]
Auszug in: Neue Deutsche Schule, 34 (1982) 3, S. 4-7.
[30]
Vgl. als Beispiel für die Diskussion in der GEW die kontroversen Beiträge von Ulrich Hecker und Jürgen Jahnke in: Ulrich Hinz (Hrsg.), Keine Zukunft für Lehrer? Essen 1983.
[31]
Vgl. Bölling. Lehrerarbeitslosigkeit (Anm. 6), S. 207 f.
[32]
Vgl. Budde/Klemm (Anm. 18), S. 13 f., 24.
[33]
Vgl. zum Folgenden Starr (Anm. 1). S. 393 ff., Husemann (Anm. 28), S. 189-195.
[34]
Reinhold Weiss/Rüdiger Falk, Lehrer in der Wirtschaft. Modellversuch zur Qualifizierung und Integration, hrsg. vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Bad Honnef 1985, S. XXIV und XXXIV.
[35]
Vgl. die Resolution zur Lehrerarbeitslosigkeit in: Frankfurter Rundschau vom 16. November 1985; Budde/Klemm (Anm. 18), S. 30 übernehmen diesen Vorschlag.
[36]
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit hat 1986 eine Untersuchung dazu begonnen, von der wichtige Aufschlüsse zu erhoffen sind.
[37]
Vgl. hierzu Klaus Klemm/Hans-Günter Rolff/Klaus-Jürgen Tillmann, Bildung für das Jahr 2000. Bilanz der Reform, Zukunft der Schule, Reinbek 1985, S. 80 ff.