Publikationen von Rainer Bölling |
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Die Prognosen für den Lehrerberuf hängen immer noch an politischen
Frankfurter Rundschau vom 1. September 1988
Noch immer sind bei der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit rund 29.000 Lehrer arbeitslos gemeldet, und nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
blieben im vergangenen Jahrzehnt sogar 85.000 Bewerbungen um eine Stelle im Schuldienst erfolglos.
Doch in letzter Zeit ist unter bundesdeutschen Lehramtsstudenten ein gedämpfter Optimismus anzutreffen. In den neunziger Jahren – so hört man – werde der Lehrerbedarf
allgemein kräftig steigen; zuweilen ist sogar schon von einem drohenden Lehrermangel die Rede. Günstigere Beschäftigungsaussichten für Lehrer scheinen nicht zuletzt
viele Studienanfänger zu erwarten. 1987 entschieden sich 14.899 (9,4 Prozent) von ihnen für ein Lehramtsstudium - fast 3.900 oder 35 Prozent mehr als im Jahr zuvor,
als diese Marke mit 7,5 Prozent der Studienanfänger einen historischen Tiefstand erreichte. Wer jetzt ein Lehramtsstudium beginne, verhalte sich antizyklisch und damit richtig,
kommentierte eine Schulleiterin diese Trendwende. Ist tatsächlich schon der Zeitpunkt gekommen, Abiturienten wieder zum Lehrerberuf zu raten, weil sie nach Abschluß ihrer fünf
bis acht Jahre dauernden Ausbildung gute Chancen auf Anstellung im Schuldienst haben werden?
Die Hoffnung, daß sich die Lage auf dem Lehrerarbeitsmarkt in den neunziger Jahren nachhaltig bessern werde, kann sich auf zwei Prognosen unterschiedlicher Herkunft stützen.
Große Resonanz in der Öffentlichkeit hat im Juni 1986 ein Gutachten gefunden, das die Bildungsforscher Hermann Budde und Klaus Klemm für die GEW-nahe Max-Träger-Stiftung
erstellt hatten. Auf der Basis einer schon recht exakten Prognose der Schülerzahlen errechneten sie bis zum Jahre 2000 einen Ersatzbedarf von fast 153.000 Lehrerinnen und Lehrern,
wenn die im Schuljahr 1984/85 erreichten Schüler/Lehrer-Relationen in den neunziger Jahren gehalten werden sollen.
Auch eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit stimmt optimistisch. Ihr zufolge soll nicht nur der Arbeitsmarkt
für Akademiker im Jahre 2000 wieder ausgeglichen sein, sondern auch der Bedarf an Hochschulabsolventen im Tätigkeitsbereich Lehren/Erziehen um 497.000 ansteigen.
Somit hätten alle Abiturienten, die jetzt ein Lehramtsstudium beginnen, gute Berufsaussichten.
Sehr viel zurückhaltender beurteilt dagegen das bayerische Kultusministerium die Situation in seiner 1987 vorgelegten Prognose zum Lehrerbedarf.
„Die in der Öffentlichkeit gerade in letzter Zeit vertretene Auffassung, daß bereits in wenigen Jahren mit einem Lehrermangel zu rechnen sei, trifft nicht zu", heißt es dort.
„Auch bei den Abiturienten, die ein Lehramtsstudium in diesem Jahr erst aufnehmen wollen, werden die Aussichten auf eine spätere Anstellung immer noch gering sein...".
Wie läßt sich dieser Widerspruch erklären, und wie soll ein am Lehrerberuf interessierter Abiturient bei seiner Berufswahl damit umgehen?
Ein grundlegendes Problem der zahlreichen Arbeitsmarktprognosen unserer Tage liegt darin, daß häufig nur die plakativ präsentierten zentralen Aussagen in der Öffentlichkeit
wahrgenommen werden. Doch erst wenn man die Annahmen kennt, von denen eine Vorausschätzung ausgeht, kann man ihre Zuverlässigkeit einigermaßen beurteilen.
Die Aussage des Nürnberger IAB etwa, daß um die Jahrtausendwende der Arbeitsmarkt für Akademiker ausgeglichen sein werde, setzt u. a. ein durchschnittliches
Wirtschaftswachstum von wenigstens 2,5 % pro Jahr voraus. Auch wenn dies 1988 wohl erreicht wird, erscheint die Annahme für den gesamten Prognosezeitraum 1982–2000
doch reichlich optimistisch. Fällt das Wachstum insgesamt niedriger aus, muß auch die vorausgeschätzte Zahl der Akademiker-Arbeitsplätze nach unten korrigiert werden.
Vor allem aber - darauf weisen Mitarbeiter des Nürnberger Instituts selbst hin - sagt die Prognose wenig über die interne Struktur des Akademikerbedarfs aus.
Der erwartete Zuwachs an Arbeitsplätzen im Tätigkeitsfeld Lehren/Erziehen etwa ergibt sich aus einer Fortschreibung des augenblicklichen Trends, Nicht-Akademiker durch
Akademiker zu ersetzen. Da dieser Umschichtungsprozeß im wesentlichen außerhalb des öffentlichen Schulwesens abläuft, darf der prognostizierte Zuwachs nur zum kleineren Teil
als steigender Lehrerbedarf interpretiert werden.
Für den Teilarbeitsmarkt Schule ist das Gutachten von Budde/Klemm zweifellos wesentlich informativer. Doch auch hier gilt es nach den Annahmen zu fragen, die ihm zugrunde
liegen, und diese mit der realen Entwicklung zu vergleichen. Ein Unsicherheitsfaktor liegt z. B. in der Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung. Die Autoren haben
über den gesamten Prognosezeitraum den Wert des Schuljahres 1984/85 angesetzt, als 5,5 % der männlichen Lehrer und 40,5 % aller Lehrerinnen Teilzeitarbeit leisteten.
Nun spricht aber einiges dafür, daß dieser Anteil in den nächsten Jahren wieder sinken wird. Denn viele Lehrerinnen, die zur Betreuung ihrer kleinen Kinder ein
geringeres Stundendeputat gewählt haben, erhöhen dies wieder, wenn die Kinder herangewachsen sind. Da mit einem vollen Ausgleich durch Neuanträge auf Teilzeitarbeit
infolge der zunehmenden Überalterung der Lehrerschaft nicht zu rechnen ist, wird das Unterrichtsstundenangebot der vorhandenen Lehrer(innen) in den neunziger Jahren
wahrscheinlich höher sein als nach der Modellannahme. Einen vielleicht noch stärker zu Buche schlagenden bedarfsmindernden Effekt hat die Rückkehr vorübergehend
beurlaubter Lehrkräfte in den Schuldienst. Wie groß die Auswirkung dieser Faktoren auf den Lehrerbedarf der neunziger Jahre genau sein wird, vermag freilich niemand zu sagen,
weil sie von zahlreichen individuellen Entscheidungen abhängt, für die das Beamtenrecht nur den Rahmen abgibt.
Besondere prognostische Bedeutung kommt der von Budde/Klemm zugrunde gelegten Annahme zu, daß die 1984/85 erreichten Schüler/Lehrer-Relationen in den neunziger Jahren
konstant gehalten oder (nach einer zweiten Modellvariante) sogar noch verbessert werden. Doch was pädagogisch wünschenswert erscheint, ist damit noch lange nicht politische Realität.
Das verdeutlicht beispielhaft ein Schreiben, mit dem das nordrhein-westfälische Kultusministerium vor Jahresfrist seine auf einige Tabellen geschrumpften Informationen
über den Lehrerbedarf im Lande verschickte. Er werde „nicht allein von der Entwicklung der Schülerzahlen bestimmt", heißt es dort, „sondern auch davon, welche
Bemessungsgrößen (Schüler-Lehrer-Relationen) zugrunde gelegt werden. Die Bemessungsgrößen sind von der Finanzlage des Landes abhängig. Da die Konsolidierung der Haushalte
vorrangiges Ziel der Landespolitik ist, ergeben sich aus jetziger Sicht nur äußerst geringe Einstellungsmöglichkeiten.“
Eine solche finanzpolitische Priorität ist auch anderen Bundesländern nicht fremd, z.B. Niedersachsen, das für die Schuljahre 1987/88 und 1988/89 einen Einstellungsstopp
an allgemeinbildenden Schulen verfügt hat. Sollte diese Priorität in den kommenden Jahren weiter bestehen, dann werden nicht nur die Klassenfrequenzen wieder steigen,
sondern auch die Einstellungschancen des Lehrernachwuchses entsprechend geringer ausfallen. Bereits jetzt ist abzusehen, daß mit einer Nachfrage größeren Ausmaßes
nicht schon am Anfang, sondern erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gerechnet werden kann.
Für die Berufswahlentscheidung der Abiturienten stellt der globale Lehrerbedarf, um den es bisher ging, allerdings eine zu allgemeine Größe dar.
Denn man wird ja nicht zum Lehrer schlechthin ausgebildet, sondern für bestimmte Schulformen oder -stufen bzw. Fächer. Daher sind weitere Differenzierungen erforderlich.
Im Grundschulbereich weisen die vorliegenden Berechnungen schon für die nächsten Jahre einen Bedarf an neuen Lehrern aus, der schnell zunimmt. Viele Schulverwaltungen
versuchen ihn zunächst durch die pädagogisch problematische Versetzung „überzähliger" Hauptschullehrer zu decken. Doch wenn dieses Reservoir erschöpft ist,
wird die Einstellung neuer Grundschullehrer eine unabweisbare Notwendigkeit, sofern nicht ein erheblicher Anstieg der Klassenfrequenzen und eine „kollektive Vergreisung"
der Lehrerkollegien in Kauf genommen werden soll.
In den Schulen der Sekundarstufen I und II (Klasse 5 bis 13) kann erst später mit einer Besserung der allgemeinen Lage gerechnet werden. Von großer Bedeutung für die künftigen
Beschäftigungsaussichten ist hier zudem der fächerspezifische Bedarf. Er hängt von zahlreichen Faktoren ab und läßt sich daher nur schwer methodisch gesichert vorausschätzen.
Deshalb vermeiden die meisten Lehrerbedarfsprognosen gerade in diesem Punkt konkrete Festlegungen. Immerhin liefern aber die derzeitige Auslastungsquote und die Altersstruktur
des jeweiligen Fachlehrerkontingents Anhaltspunkte für vorsichtige Aussagen über fächerspezifische Einstellungschancen. So sind diese der bayerischen Prognose zufolge schon heute
für die Fächerverbindung Mathematik/Physik günstig, „weil sich eine große Zahl von Studenten dieser Fächer einer Beschäftigung in der Industrie zugewandt hat".
Tendenziell gilt das auch in anderen Bundesländern für die naturwissenschaftlichen Fächer.
Anders sieht es bei den sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächern aus. In Nordrhein-Westfalen z.B. gelten nach dem diesjährigen Einstellungserlaß Geschichte, Erdkunde,
Französisch und Philosophie als Überhangfächer, die selbst in Verbindung mit dem traditionellen Mangelfach Musik keine Einstellungschance bieten. Dagegen sind Lateinlehrer
bereits knapp, und ein weit überdurchschnittlicher Teil von ihnen tritt in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Hier zeichnet sich demnach ein hoher Ersatzbedarf ab,
der nur zum Teil durch die angelaufene Nachqualifizierung von Lehrern mit Überhangfächern gedeckt werden kann. Konkrete Zahlen zum fachspezifischen Einstellungsvolumen
der nächsten Jahre mag aber zur Zeit keine Unterrichtsverwaltung nennen.
Bleibt als Fazit: wer heute ein Lehramtsstudium aufnimmt, kann sich bis weit in die neunziger Jahre hinein nur mit einer gesuchten Fächerkombination und guten Examensnoten
begründete Hoffnung auf Anstellung im öffentlichen Schulwesen machen. Er muß eine Anpassungsfähigkeit an die komplizierte Entwicklung des teilarbeitsmarktes Schule beweisen,
wie sie von den jetzt im Dienst stehenden Lehrern nicht verlangt wurde.
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