Publikationen von Rainer Bölling |
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1.
Einleitung Seit der Institutionalisierung eines modernen Erziehungswesens in Deutschland hat die Gestaltung der Lehrerbildung immer wieder eine zentrale bildungspolitische Rolle gespielt. Sollten Reformen im Schulwesen erfolgreich sein, so musste auch für eine entsprechende Ausbildung der dort tätigen Lehrer gesorgt werden; diese wiederum war für die Angehörigen der Berufsgruppe von hoher standespolitischer Bedeutung. Schon
früh, in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, wurde
die Ausbildung aller Lehrer an der
Universität als Fernziel anvisiert. In der Tivoli-Erklärung Berliner
Lehrer vom April 1848 hieß es: "Die Lehrerbildungsanstalt ist ein
Zweig der Universität und gibt theoretische und praktische
Ausbildung."[1] Für
die Volksschullehrer blieb diese Forderung jedoch mehr als ein halbes
Jahrhundert utopisch und geriet bald wieder in Vergessenheit. Erst 1904
schrieb der Deutsche Lehrerverein als größte Berufsorganisation die
Akademisierung der Lehrerbildung wieder auf seine Fahnen.[2] Der
Weg dahin war allerdings auch im 20. Jahrhundert noch weit. In der
Weimarer Republik kam es nur in wenigen Staaten zur Verlegung der
Volksschullehrerbildung an Universitäten. In Preußen wurden die Pädagogischen Akademien
geschaffen - darunter 1929 auch die in Erfurt. Mochten sie auch einen
bedeutenden Fortschritt in der Ausbildung der Volksschullehrer
darstellen, so konnten sie doch keinen Universitätsrang beanspruchen. Nach
1945 dominierte in der Bundesrepublik zunächst diese
Lehrerbildungsinstitution, bald unter dem Namen Pädagogische Hochschule. Nach
und nach wurden diese dann Universitäten angegliedert oder vollständig
in diese integriert - ein Prozess, der 1980 auch im bevölkerungsreichsten
Bundesland Nordrhein-Westfalen zum Abschluss kam.[3] Mit
der Eingliederung der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten
des Landes erschien verwirklicht, was 1848 erstmals gefordert worden
war. Handelte es sich somit um den glanzvollen - oder auch verspäteten
- Abschluss eines langen Kampfes um Demokratisierung der Lehrerbildung? Die
PH-Professoren, die sich nun Universitätsprofessoren nennen durften,
mochten es so sehen. Für den akademischen Mittelbau auf Zeitstellen
hatte die Integration jedoch noch ganz andere Folgen: sie ermöglichte
durch die Zusammenlegung von Ausbildungsinstitutionen den Abbau von
Planstellen - und das war eine wichtige, wenngleich öffentlich nicht
herausgestellte Funktion dieser Maßnahme. Was auf den ersten Blick als
bildungspolitischer Fortschritt erscheint, diente also zugleich als
Sparmaßnahme. Den Hintergrund dafür bildete ein seit Jahren
prognostiziertes und nach der Landtagswahl von 1980 auch in
Nordrhein-Westfalen offen zutage tretendes Überangebot an ausgebildeten
Lehrern.[4] Zu dem
Zeitpunkt, da die Ausbildung aller
Lehrer Sache der Universitäten geworden war, brauchte das Land keine
neuen Lehrer mehr. Der
hier kurz aufgezeigte Zusammenhang zwischen Lehrerbildungsreformen und
der Situation auf dem Arbeitsmarkt soll im folgenden an zwei Beispielen
näher untersucht werden: der Gründung der Pädagogischen Akademien und
der Einführung des Seminarjahres zur Ausbildung für das höhere
Lehramt in Preußen. 2. Die Gründung der Pädagogischen Akademien in Preußen Am
Anfang der Weimarer Republik bestand unter Pädagogen und
Bildungspolitikern weitgehend Konsens darüber, dass die Ausbildung der
Volksschullehrer einer grundlegenden Reform bedürfe. Die Tage der
Lehrerseminare alten Stils, denen das Odium intellektueller Dürftigkeit
und geistiger Enge anhaftete, waren gezählt. Umstritten blieb jedoch
die Frage, wie die künftige Lehrerbildung aussehen sollte. Art. 143
Abs. 2 WRV sah in einer vage gehaltenen Formulierung vor, dass sie
"nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein
gelten, für das Reich einheitlich zu regeln" sei. Eine solche
reichseinheitliche Regelung kam jedoch bekanntlich nicht zustande - vor
allem, aber nicht allein deshalb, weil das Reich die besoldungsmäßigen
Konsequenzen einer Akademisierung der Volksschullehrerausbildung
scheute. Da nämlich die Vorbildung der Beamten als grundlegendes
Kriterium für ihre Einstufung in die Besoldungsskala galt - und gilt -,
musste eine qualitativ verbesserte Ausbildung der Volksschullehrer über
kurz oder lang ihre höhere Bezahlung zur Folge haben.[5] Dieser
Gesichtspunkt hat bei der Entstehung der Pädagogischen Akademien eine
wichtige Rolle gespielt, die von der älteren Geschichtsschreibung zu
wenig beachtet worden ist. Lange Zeit dominierte die rundum positive
Darstellung der neuen Lehrerbildungsinstitution durch C.H. Becker (1926)[6] und
vor allem Helmuth Kittel,
der 1965 schrieb: "Sie half, die akademische Lehrerbildung neuen
Anforderungen der Erziehungswissenschaft ebenso wie der Schule
offenzuhalten und sie damit vor der Kapitulation zu bewahren, nämlich
davor, - sich der Universität einzugliedern."[7] Den Gründungsvätern
schien eine eigenständige Hochschule zur Ausbildung der
Volksschullehrer besser geeignet als die philosophische Fakultät der
Universität, deren Praxisferne zu Beginn der Weimarer Republik auch Befürworter
der reinen Universitätslösung einräumten. In den
1980er Jahren hingegen hat eine kritische Bewertung der Pädagogischen
Akademien an Bedeutung gewonnen. Rita
Weber (1984) sieht in ihnen das "Produkt einer
gesellschaftspolitisch konservativen Defensivstrategie, welche die
Volksschullehrer von wissenschaftlicher Ausbildung (und damit von
weitergehenden standespolitischen Ansprüchen) fernhielt, auf
Berufsvorbereitung beschränkte und zwar dem Schein nach eine hochschulmäßige
Ausbildung verordnete, in Wahrheit aber die Hierarchie im Berufsstand
der Lehrer zementierte".[8] Und Gerhard Meyer-Willner kommt in
seiner Untersuchung über "Eduard Spranger und die
Lehrerbildung" (1986) zu dem Ergebnis, Spranger könne nicht länger
als der "geistige Vater" der Pädagogischen Akademien
angesehen werden. Sein 1920 vorgestelltes Konzept der Bildnerhochschule, an das die
Akademielösung anknüpfte, sei nichts anderes als ein "taktisches
Verlegenheitsprodukt" zur Abwehr der Volksschullehrer von der
Universität gewesen.[9] Tatsächlich
war ja Spranger schon im September 1919 vom damaligen Staatssekretär
und späteren preußischen Kultusminister C. H. Becker gebeten worden, ihm
gegen den "Ansturm der Volksschullehrer" zu Hilfe zu kommen.[10] Und
der "politische Vater" der Pädagogischen Akademien - selbst
Professor für Orientalistik - war fest davon überzeugt, dass die
Universität nicht der richtige Ort für die Ausbildung der
Volksschullehrer sei. Im Gegensatz zu Spranger stellte dabei für Becker
die antidemokratische Grundhaltung der deutschen Universität das
vorrangige Motiv dar.[11] Die
Universitätslösung wäre aber auch wegen der absehbaren Folgekosten
unter den damaligen Rahmenbedingungen (Finanznot von Reich und Ländern,
parlamentarische Mehrheitsverhältnisse) in Preußen politisch nicht
durchzusetzen gewesen. Das zeigt das jahrelange Tauziehen zwischen
Kultus- und Finanzministerium um die Neuordnung der Lehrerbildung sehr
deutlich. Als die preußische Regierung am 7. Oktober 1924 endlich den
Beschluss fasste, das Abitur zur Voraussetzung für die Ausbildung der
Volksschullehrer zu machen, geschah das mit der Maßgabe, dass daraus
keine Mehrkosten erwachsen dürften, insbesondere nicht auf dem Gebiete
der Besoldung.[12] Ob
sich unter dieser Bedingung eine ausreichende Zahl von Abiturienten für
den Beruf des Volksschullehrers entscheiden würde, wurde damals nicht
diskutiert. Das Problem war aber auch nicht akut, weil es in den 1920er
Jahren in Preußen ein erdrückendes Überangebot an Lehrern aus der
auslaufenden seminaristischen Lehrerausbildung gab. Die
Ursachen dieser Massenarbeitslosigkeit von Volksschullehrern waren schon
in der Zeit des Kaiserreichs angelegt.[13] Um den
schnell steigenden Lehrerbedarf zu decken, war am Anfang des 20.
Jahrhunderts nicht nur das Lehrerbildungswesen forciert ausgebaut,
sondern auch die Besoldung kräftig angehoben worden. Das ließ den
Volksschullehrerberuf für Angehörige der unteren Mittelschichten
durchaus attraktiv werden. Es setzte ein solcher Zulauf zu den
Lehrerseminaren ein, dass sich schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Überfüllung
des Volksschullehramtes in Preußen abzeichnete. Durch die
Ausnahmesituation des Krieges wurden die absehbaren Probleme zunächst
verschleiert. Als aber nach Kriegsende die meisten aus dem Felde zurückkehrenden
Lehrer wieder in ihre Stellen einrückten, waren ausgebildete
Schulamtsbewerber (Junglehrer) unvermittelt von Arbeitslosigkeit
betroffen. Dafür gab es mehrere kriegsbedingte Gründe. Durch die
Gebietsabtretungen nach dem Versailler Vertrag, von denen hauptsächlich
Preußen betroffen war, gingen Tausende von Schulstellen verloren. In
das verkleinerte Staatsgebiet strömten aber mehr als 10.000 Flüchtlingslehrer
aus den abgetretenen Gebieten, die aufgrund eines
"Unterbringungsgesetzes" vom März 1920 bevorzugt wieder
eingestellt wurden. Der wichtigste Grund lag jedoch darin, dass wegen
der geburtenschwachen Kriegsjahrgänge die Schülerzahl zwischen 1921
und 1926 um ein Viertel zurückging. Dadurch verbesserte sich die Schüler/Lehrer-
Relation gewissermaßen automatisch von 46,8 (1921) auf 37,2 (1926) -
und das, obwohl dem Personalabbau von 1924 zahlreiche Planstellen zum
Opfer fielen. Auf Grund dieser Faktoren sanken die Anstellungschancen
der Junglehrer ins Bodenlose. Auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit im
Mai 1926 gab es in Preußen über 40.000 Schulamtsbewerber und
-bewerberinnen, von denen fast 30.000 ohne jegliche Beschäftigung im
Schuldienst waren. Auf die Zahl der Planstellen bezogen bedeutete das
eine Arbeitslosenquote von 27 %. Nach Berechnungen des Preußischen
Lehrervereins konnten die letzten evangelischen Bewerber frühestens
1930, die am schlechtesten gestellten katholischen Bewerberinnen erst
1936 mit einer festen Anstellung rechnen. So
fatal diese Arbeitsmarktsituation für die Betroffenen war, begünstigte
sie doch andererseits die Pläne des Kultusministeriums zur Neuordnung
der Lehrerbildung. Es konnte die alten Präparandenanstalten und
Seminare schließen (und großenteils in Aufbauschulen umwandeln), ohne
zugleich auf einem anderen Ausbildungsweg für Ersatz sorgen zu müssen;
die Zeit arbeitete somit für das neue Konzept der Pädagogischen
Akademien. Zudem brauchten diese zunächst auch nicht den Beweis zu
erbringen, dass sie bei unveränderter Besoldung der dort ausgebildeten
Volksschullehrer zur Deckung des längerfristigen Lehrerbedarfs in der
Lage waren. Bis 1930 brachten die ersten Akademien ganze 500 Absolventen
hervor, während zu diesem Zeitpunkt immer noch rund 8.000
seminaristisch gebildete Schulamtsbewerber auf eine Anstellung warteten.
Durch die Sparmaßnahmen im Rahmen der Brüningschen
Notverordnungspolitik stieg ihre Zahl sogar wieder an und lag am Ende
der Weimarer Republik bei 10.630. Bei einem Ersatzbedarf von 2.600 bis
2.700 Lehrern pro Jahr konnten die letzten bis 1936/37 mit ihrer Übernahme
in den Schuldienst rechnen. Von
diesem Zeitpunkt an musste der Lehrerbedarf durch die Pädagogischen
Akademien gedeckt werden, deren Zahl aber im Zuge der Sparmaßnahmen
1932 von fünfzehn auf sieben reduziert wurde. Nach der
nationalsozialistischen Machtübernahme wurden sie in Hochschulen für Lehrerbildung umbenannt
und durch Austausch von zwei Dritteln der Professoren und Dozenten
ideologisch "auf Linie gebracht". Das quantitative
Nachwuchsproblem ließ sich dadurch jedoch nicht lösen. Trotz aller
Werbemaßnahmen für das Volksschullehrerstudium vermochten die
Hochschulen für Lehrerbildung 1938 nicht einmal die Hälfte des Bedarfs
zu decken.[14] Als
wichtigste Ursache für den Nachwuchsmangel machte der Vorsitzende des
NS-Lehrerbundes, Wächtler, im
September 1938 in einer internen Denkschrift das Missverhältnis von
Vorbildung und Besoldung aus.[15] Tatsächlich
erschien es wenig attraktiv, mit Abitur und einem zwei Jahre dauernden
Studium wie ein mittlerer Beamter ohne Abitur bezahlt zu werden. Eben
das aber war die Prämisse gewesen, unter der die preußische Regierung
1924 der Akademielösung zugestimmt hatte. Dass sie nun die Probe auf
dem Arbeitsmarkt nicht bestand, lag in erster Linie an diesem
"Geburtsfehler", nicht etwa an der Schulpolitik der
Nationalsozialisten. Allerdings waren diese auch nicht bereit, die
Besoldung unter verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen der höheren
Ausbildung anzupassen. Vielmehr zeigte sich der Chef der Reichskanzlei
im Januar 1941 überzeugt, der Staat werde "niemals in der Lage
sein ..., die Volksschullehrer so hoch zu besolden, dass sich für ihre
Ausbildung ein Hochschulstudium lohnt".[16] Dieser
Satz diente der Begründung des Führerbefehls, durch den zwei Monate
zuvor die Schließung der Hochschulen für Lehrerbildung verfügt worden
war. Sie wurden durch Lehrerbildungsanstalten
nach österreichischem Vorbild ersetzt, deren fünfjährige Ausbildung
nur den Volksschulabschluss voraussetzte. Allerdings nahmen sie auch
Abiturient(inn)en auf, für die sich die Ausbildung auf ein Jahr verkürzte.[17] Gegenüber
den Pädagogischen Akademien bzw. Hochschulen für Lehrerbildung
bedeuteten sie dennoch einen qualitativen Rückschritt, der von
bildungsfeindlichen Kreisen der NSDAP - im Gegensatz zum NS-Lehrerbund
und auch der SS - politisch gewollt war. Dass die akademische
Lehrerbildung das Problem der Nachwuchsrekrutierung ohne eine deutliche
Anhebung der Besoldung nicht zu lösen vermocht hatte, war Wasser auf
die Mühlen ihrer Gegner und förderte ihre vorübergehende
Liquidierung. Zusammenfassend
sei festgehalten, dass die Lehrerbildungspolitik zur Zeit der Weimarer
Republik zwar über ein beachtliches pädagogisches Reformpotential verfügte,
nicht jedoch über die notwendigen finanziellen Ressourcen. Diese
Diskrepanz trat jedoch unter den Arbeitsmarktbedingungen der 20er und frühen
30er Jahre nicht offen zutage. Erst in der Bundesrepublik waren in den
späten 50er und den 60er Jahren die ökonomischen und finanzpolitischen
Voraussetzungen gegeben, um eine der akademischen Lehrerbildung auf
einem freien Arbeitsmarkt angemessene Besoldung zu gewähren. Nur
dadurch ließ sich auch der Lehrermangel beheben, der in den 60er Jahren
ein bedrohliches Ausmaß angenommen hatte. 3. Die Einführung des Seminarjahres
zur Ausbildung für das höhere Lehramt Für
die Ausbildung der Lehrer an höheren Schulen galt seit der Einführung
des Examen pro facultate docendi durch Wilhelm v. Humboldt im Jahre 1810
ein hoher wissenschaftlicher Qualitätsanspruch. Die neuhumanistischen
Bildungsreformer waren überzeugt, dass ein guter Wissenschaftler auch
ein guter Lehrer sei, und hielten eine
planmäßige pädagogische Ausbildung neben dem Fachstudium nicht für nötig.
Die im Lehramtsexamen von 1810 vorgeschriebene Lehrprobe war kein
ernsthafter Gradmesser der pädagogischen Befähigung. Allerdings wurde
in der Reaktionszeit 1826 ein Probejahr eingeführt, in dem die
Lehramtskandidaten durch Hospitationen und eigene Unterrichtsversuche
praktische Fähigkeiten erwerben sollten. Da sie jedoch allzu oft als
billige Aushilfslehrer eingesetzt wurden, blieb der pädagogische Wert
des Probejahres gering; in erster Linie bot es dem Staat - nach einem
Erlas von 1833 - "eine sichere und schickliche Gelegenheit, die
Schulamtskandidaten noch vor ihrer Anstellung auch in Hinsicht ihrer
sittlich-religiösen Denk- und Handlungsweise, und insbesondere ihrer
politischen Grundsätze, genauer kennen zu lernen".[18] Die pädagogischen
Defizite des Probejahres blieben der Unterrichtsverwaltung aber nicht
verborgen. Im Jahre 1849 legte der reformorientierte Minister v. Ladenberg einer aus Vertretern
des höheren Schulwesens bestehenden Landesschulkonferenz ein Papier
vor, das auch zur praktischen Ausbildung der Oberlehrer einen wichtigen
Vorschlag enthielt. Sie sollte an "besonders dazu zu bezeichnenden
und einzurichtenden Lehranstalten jeder Provinz in einem zweijährigen
Kursus" erfolgen, wobei den Kandidaten Unterhaltskosten gezahlt
werden sollten. Ähnliche Vorschläge wurden im Lauf der nächsten
Jahrzehnte von einigen Direktorenversammlungen wiederholt, und 1884 resümierte
Friedrich Paulsen in seiner
"Geschichte des gelehrten Unterrichts": "Das scheint
unzweifelhaft, dass eine Abhilfe nur durch Ausbildung des Instituts
des Probejahrs zu wirklichen Gymnasialseminaren [...] Ein
Blick auf den Lehrerarbeitsmarkt liefert
eine plausible Erklärung. Als die Verlängerung der Ausbildung um das
Seminarjahr 1849 vorgeschlagen wurde, stand nach jahrelanger Überfüllung
des höheren Lehramts ein Umschlag bevor.[21] Das stürmische
Wirtschaftswachstum im Zeichen des Durchbruchs der Industriellen
Revolution brachte einen schnell steigenden Bedarf an qualifizierten
Arbeitskräften mit sich. Dadurch wurde ein forcierter Ausbau des
weiterführenden Bildungswesens erforderlich. Während die preußische
Gesamtbevölkerung zwischen 1860 und 1880 um die Hälfte wuchs, stieg
die Zahl der höheren Schüler auf mehr als das Doppelte. So kam es
schon am Ende der 1850er Jahre zu einem empfindlichen Lehrermangel, der
bis ca. 1880 anhielt. In dieser Situation war an eine pädagogisch wünschenswerte
Verlängerung der Ausbildung nicht zu denken. Vielmehr sah sich die
Unterrichtsverwaltung durch den Nachwuchsmangel gezwungen, den Zugang
zum Beruf zu erleichtern. Nach der Prüfungsordnung von 1866 bestanden
auch solche Kandidaten die Prüfung, deren Lehrbefähigung nur für die
Unterstufe der höheren Schule ausreichte (Zeugnis dritten Grades) - und
die machten um 1870 mehr als ein Viertel aller Prüflinge aus. Außerdem
wurden 1872 die Gehälter der Oberlehrer um durchschnittlich 25 % erhöht,
so dass der Beruf auch finanziell attraktiver wurde. Angesichts glänzender
Berufsaussichten strömten nun mehr Lehramtsstudenten als je zuvor in
die philosophischen Fakultäten der Universitäten. Doch
wer in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre ein Lehramtsstudium
aufgenommen hatte, sah sich nach Abschluss der etwa sechs Jahre
dauernden Ausbildung mit einer grundlegend veränderten Arbeitsmarktlage
konfrontiert. Von den frühen 1880er Jahren bis zum Ende des
Jahrhunderts überstieg nämlich das Angebot an Lehrern die Nachfrage.
Der Höhepunkt der Überfüllung wurde 1890 erreicht, als auf 100
festangestellte Lehrer 40 Kandidaten entfielen. Vor diesem Hintergrund
konnte die Kultusverwaltung die Prüfungsanforderungen wieder anheben
und die Ausbildung verlängern. 1887 wurde der in der Mangelphase eingeführte
dritte Zeugnisgrad wieder abgeschafft, und drei Jahre später stand dann
auch der Einführung des Seminarjahres nichts mehr im Wege. Was als
Reformmaßnahme unter Fachleuten schon lange auf der Tagesordnung
gestanden hatte, erhielt jetzt obendrein eine arbeitsmarktpolitische
Funktion: durch die Verlängerung der Ausbildung wurde der Abschreckungseffekt der
unmittelbar erfahrenen Überfüllung noch verstärkt. Jedenfalls sank
die Zahl der Lehramtsstudenten von 1882/83 bis 1892/93 auf knapp die Hälfte. Als
nach der Jahrhundertwende ein weiterer Expansionsschub im höheren
Schulwesen erneut zu einem Mangel an Oberlehrern führte, wurden wieder
zahlreiche Lehramtskandidaten zur Deckung des regulären
Unterrichtsbedarfs herangezogen, nicht wenige sogar schon vor Abschluss
ihrer Ausbildung fest angestellt. Die Einrichtung des Seminarjahres
wurde deswegen aber nicht rückgängig gemacht. Vielmehr erhielt der
zweijährige Vorbereitungsdienst 1908 eine verbesserte Ordnung. Den
Abschluss dieser Entwicklung bildete die Einführung der zweiten (pädagogischen)
Lehramtsprüfung im Juli 1917, deren zentrale Elemente bis heute
erhalten geblieben sind. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits die nächste
Überfüllung des höheren Lehramtes in Preußen bevor, so dass die Prüfung
auch als arbeitsmarktkonformes Selektionsinstrument dienen konnte. Diese
Funktion hat sie dann während der Weimarer Republik wenigstens
teilweise übernehmen müssen.[22] 4. Bilanz der historischen Erfahrungen Unser
Blick auf die deutsche Bildungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
hat gezeigt, dass Innovationen in der Lehrerbildung ohne Berücksichtigung
der jeweiligen Arbeitsmarktlage nicht angemessen interpretiert werden können.
Reformen, die eine Verlängerung der Ausbildungsdauer
mit sich brachten, sind vor allem dann durchgeführt worden, wenn auf
dem Lehrerarbeitsmarkt ein Überangebot
herrschte. Dieser Zusammenhang wurde an der Einführung des
Seminarjahres zur Ausbildung für das höhere Lehramt 1890 sowie an der
Gründung der Pädagogischen Akademien in der Weimarer Republik
aufgezeigt; er findet eine Bestätigung in der Verlegung der
Grundschullehrerausbildung an die Pädagogischen Hochschulen, die jüngst
in den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund eines Überangebots an
Lehrern stattgefunden hat. Damit kam und kommt diesen Maßnahmen eine
den Teilarbeitsmarkt Schule entlastende Funktion zu. Zugleich bietet
sich den politisch Handelnden so die Möglichkeit, eine restriktive
Personalpolitik durch positiv bewertete Reformen in den Hintergrund
treten zu lassen. Nachdem die akademische Ausbildung aller Lehrer an
Universitäten oder Pädagogischen Hochschulen zum Standard geworden
ist, scheint dieses Verfahren aber "ausgereizt" zu sein. Der
umgekehrte Weg, die Abschaffung einer vorhandenen Ausbildungsinstitution
zugunsten eines schon überwunden geglaubten Modells der Lehrerbildung,
ist in der deutschen Bildungsgeschichte nur einmal beschritten worden:
bei der Auflösung der Hochschulen für Lehrerbildung im Jahre 1940. Sie
war in dieser Form nur unter den Bedingungen einer Diktatur möglich und
wird - so ist zu hoffen - nicht wiederholbar sein. In einer Demokratie
erweist sich ein einmal erreichtes Anspruchsniveau als schwer
revidierbar. Das bedeutet aber, dass der Handlungsspielraum der
Unterrichtsministerien begrenzt ist. So wird vor dem düsteren
finanzpolitischen Hintergrund der Gegenwart vor allem nach kleineren
Einsparungsmöglichkeiten gesucht, die in der Summe den gewünschten
Effekt bringen sollen. Grundlegende Reformen der Lehrerbildung mit
arbeitsmarktpolitischer Funktion stehen nicht mehr auf der Tagesordnung
der Bildungspolitik. [1] Zitiert nach Gernot Paul, Lehrerbildung und Politik. Eine Analyse der Auseinandersetzungen während der Weimarer Republik, Hamburg 1985, S. 23. [2] Vgl. Rainer Bölling, Volksschullehrer und Politik. Der Deutsche Lehrerverein 1918-1933, Göttingen 1978, S. 82. [3] Vgl. den knappen Abriß der Entwicklung bei R. Bölling, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983, S. 159-161; ferner den anläßlich der nordrhein-westfälischen Integration entstandenen Rückblick von Hellmut Becker, Die verspätete Lehrerbildung, in: Neue Sammlung 20 (1980), S. 478-491. [4] Zur Lehrerarbeitslosigkeit der 1980er Jahre siehe u.a. Beate Pieper, Vom Lehrermangel zur Lehrerarbeitslosigkeit. Bildungspolitik als geschichtliches Dilemma, Münster 1984; Carl-Ludwig Furck, Revision der Lehrerbildung. Zum Problem der Einstiegsarbeitslosigkeit von Lehrern, Weinheim/Basel 1986; R. Bölling, Lehrerarbeitslosigkeit in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 27 (1987), S. 229-258, hier S. 242 ff. [5] Vgl. hierzu v.a. Paul (Anm. 1) und Bölling, Volksschullehrer (Anm. 2), Kap. VII: Der Kampf um die Akademisierung der Lehrerbildung. [6] Carl Heinrich Becker, Die Pädagogische Akademie im Aufbau unseres nationalen Bildungswesens, Leipzig 1926. [7] H. Kittel (Hrsg.), Die Pädagogischen Hochschulen. Dokumente ihrer Entwicklung 1920-1932, Darmstadt 1965, S. 9. Ferner ders., Die Entwicklung der Pädagogischen Hochschulen 1926-1932, Berlin 1957; Herkunft und Zukunft der Pädagogischen Hochschulen. Ein Disput mit Hellmut Becker, in: Neue Sammlung 22 (1982), S. 165-181. [8] Rita Weber, Die Neuordnung der preußischen Volksschullehrerausbildung in der Weimarer Republik. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung der Pädagogischen Akademien, Köln/Wien 1984. Die Formulierung der These in der Rezension von Karl-Ernst Jeismann in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 221 f. [9] Gerhard Meyer-Willner, Eduard Spranger und die Lehrerbildung. Die notwendige Revision eines Mythos, Bad Heilbrunn 1986, S. 426. [10] Vgl. Eduard Spranger, Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schule und Lehrer, hrsg. von Ludwig Englert, Heidelberg 1970, S. 429. [11] Vgl. H. Becker (Anm. 3), S. 481. [12]
Vgl. Paul (Anm. 1),
S. 278. [13] Zum Folgenden vgl. Bölling, Lehrerarbeitslosigkeit (Anm. 4), S. 236 ff.; Michael Sauer, Volksschullehrerbildung in Preußen. Die Seminare und Präparandenanstalten vom 18. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik, Köln/Wien 1987, S. 159-161. [14] Vgl. Bölling, Lehrerarbeitslosigkeit (Anm. 4), S. 240 f. [15] Bundesarchiv Koblenz, NS 12/1495: Gedanken um die deutsche Schule in der Gegenwart, Teil I, S. 18. [16] Rundschreiben an alle obersten Reichsbehörden vom 16. Januar 1941, zit. nach: Heinz Boberach, Jugend unter Hitler, Düsseldorf 1982, S. 84. [17] Hierzu Harald Scholtz, Politische und gesellschaftliche Funktionen der Lehrerbildungsanstalten 1941-1945, in: Zeitschrift für Pädagogik 29 (1983), S. 693-709. [18] Vgl. Bölling, Sozialgeschichte (Anm. 3), S. 20 ff., das Zitat S. 27. [19] Diese Ausführungen nach Wilhelm Fries, Die wissenschaftliche und praktische Vorbildung für das höhere Lehramt, 2. Aufl. München 1910, S. 64 f. [20] Ebd., S. 73 f.; Bölling, Sozialgeschichte, S. 27. [21] Zum Folgenden vgl. Hartmut Titze/Axel Nath/Volker Müller-Benedict, Der Lehrerzyklus. Zur Wiederkehr von Überfüllung und Mangel im höheren Lehramt in Preußen, in: Zeitschrift für Pädagogik 31 (1985), S. 97-126; Bölling, Lehrerarbeitslosigkeit (Anm. 4), S. 231 f. [22] Vgl. hierzu R. Bölling, Die Ausbildung der Lehrer an höheren Schulen in Preußen. Entwicklungslinien und Probleme vom 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, in: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung 20/21 (1983), S. 159-183, hier S. 171 ff. In: Pädagogische Hochschule Erfurt/Mühlhausen (Hrsg.), Erziehung, Lehre und Wissenschaft zwischen Tradition und Innovation, Erfurt 1992, S. 156–170 |
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