"Lehrerberuf wird in der Bevölkerung völlig
falsch eingeschätzt"
Münchner Arbeitsmediziner weist auf überdurchschnittliche
Belastungen hin/ "Meilenweit von 40-Stunden-Woche entfernt"
he STUTTGART, 18. November. Das Berufsbild der Lehrer
wird von breiten Kreisen in der Bevölkerung "völlig falsch
eingeschätzt". Sowohl ihr Arbeitsaufwand als auch ihre körperlichen
und seelischen Belastungen liegen weit höher, als üblicherweise
angenommen wird. Zu solchen und ähnlichen Feststellungen kommt der
Professor für Arbeitsphysiologie der Technischen Universität München,
Wolf Müller-Limmroth, der die Auffassung vertritt, bei keinem anderen
Beruf werde eine solche "einseitige Beurteilung" praktiziert
wie bei den Lehrern. Die Politik als meinungs- und bewußtseinsbildende
Kraft müsse alles tun, damit in der Öffentlichkeit endlich eine seriöse
Einschätzung der Belastungen in diesem Beruf stattfinde.
In einem Gespräch mit der Zeitschrift bildung
konkret sagte Müller-Limmroth unter anderem, seine Untersuchungen hätten
eine wöchentliche Arbeitszeit von bis 55 Stunden ergeben. Auch bei Berücksichtigung
der Ferien seien Lehrer "meilenweit von der 40-Stunden-Woche
entfernt". Die Öffentlichkeit sehe nicht die zahlreichen Tätigkeiten,
die im Lehrerberuf zum reinen Unterrichten hinzukämen. Zur Heterogenität
dieser Tätigkeiten komme außer einem hohen Anspruch an die Wendigkeit
hinzu, daß viele davon "ständig im Fadenkreuz nörgelnder oder
beschwerdewilliger Eltern stattfinden".
Als Arbeitsmediziner stellte Müller-Limmroth fest,
daß die Pausen zwischen den einzelnen Stunden viel zu kurz und zu sehr
mit außerunterrichtlichen Tätigkeiten erfüllt seien, als daß sie der
Erholung dienen könnten. Positiver Streß kippe in diesem Beruf ständig
in den sogenannten "Disstreß" hinüber. Die Organe des
Lehrers arbeiteten "fast ständig im Grenzbereich", und
"zu oft" werde auch der biologische Regelbereich überschritten.
Obwohl ganz überwiegend mit ihrem Beruf zufrieden, gäben 80 bis 90
Prozent der Lehrer an, sie fühlten sich überbeansprucht.
Eine ganze Serie von medizinischen Auffälligkeiten
ist laut Müller-Limmroth typisch für den Lehrerberuf. Fast alle
untersuchten Symptome hätten mit der vegetativen Steuerung zu tun, so
zum Beispiel langandauernde Erhöhung des Pulses, verstärkte Atemtätigkeit,
erhöhter Blutdruck und eine Dämpfung der Abwehrreaktionen. Jeder
zweite Lehrer stehe unter erhöhtem Infarktrisiko. Der permanente
Adrenalinpegel bei Lehrern, erklärte Müller-Limmroth, liege erheblich
höher als bei Führerscheinprüflingen oder Schichtarbeitern -
"manchmal erreicht er das Niveau von Formel-1-Rennfahrern während
des Rennens". Als erheblicher physischer Streßfaktor müsse der überdurchschnittliche
Stimmaufwand angesehen werden. Zusammenfassend nannte der
Wissenschaftler als wichtigste Erkrankungen bei Lehrern unter anderem
Angina pectoris, Infarkt, Bluthochdruck, Migräne, Bronchitis, Diabetes
und Magen-/Darmgeschwüre.
Alle Anzeichen sprächen dafür, daß die Gesundheit
der Lehrer in den letzten zehn Jahren wegen der gestiegenen mentalen und
psychischen Belastungen erheblich gelitten habe. Die Vergrößerung der
Klassen bringe keine lineare Zusatzbelastung, sondern eine exponentielle
- wenn also eine Klasse um zehn Prozent mehr Schüler habe, werde der
Lehrer unter Umständen um bis zu 30 Prozent mehr beansprucht.
Müller-Limmroth wies auch dieThese zurück, die hohe
Erkrankungsrate bei Lehrern habe damit zu tun, "daß in diesen
Beruf eben nicht gerade die Stabilsten hineingehen".
Als Konsequenz aus seinen Befunden sprach sich der
Wissenschaftler eindeutig für eine Reduzierung der Unterrichtszeit aus.
"Wenn ich höre, daß nahezu alle Bundesländer genau das Gegenteil
vorhaben, nämlich eine Erhöhung der Unterrichtsmaße der Lehrer, dann
befürchte ich auch als Mediziner, daß hier ein Berufsstand
systematisch krankgemacht wird", sagte Professor Müller-Limmroth.
Frankfurter Rundschau vom 19.11.1993