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Welcher Geschichtslehrer kennt das Problem nicht? Man sucht für den Unterricht eine Quelle, die möglichst viele Aspekte eines Themas enthält, kann sie aber trotz intensiven Stöberns in gängigen Quellensammlungen nicht finden. In dieser Situation sollen Kollegen schon darauf verfallen sein, eine Quelle selbst zu erfinden. Doch mag das Produkt auch noch so gut in den historischen Kontext passen - es ist wohl unumstritten, daß diese Art der Materialbeschaffung unzulässig ist. Die im Unterricht eingesetzten Texte müssen „den Kriterien der Fachwissenschaft genügen, insofern sie echt, verbürgt und glaubwürdig zu sein haben“.[1] Dieser
Grundsatz wird jedoch selbst von einigen Schulbuchautoren verletzt,
wenn es darum geht, Quellen für den Unterricht zu arrangieren. Ein
aufschlußreiches Beispiel hierfür findet sich in einem Unterrichtsmodell
über „Industrialisierung und Soziale Frage im Wuppertal“, das im
Rahmen eines „Modellversuchs zur Erprobung und Weiterentwicklung der
Richtlinien für die Unterrichtsfächer der gymnasialen Oberstufe“
in Nordrhein-Westfalen erarbeitet wurde. Dort wird eine Rede
abgedruckt, die Bismarck am 20. März 1884 im Reichstag gehalten haben
soll.[2]
Auffällig ist bereits, daß für diese Rede zwei verschiedene
Fundorte angegeben sind. Prüft man den ersten nach, so findet man in
der „Weltgeschichte im Aufriß“ den ersten Teil des Textes unter
dem Datum „April 1881“ abgedruckt: Ich habe
das Gefühl, daß der Staat auch für seine Unterlassungen
verantwortlich werden kann. Ich bin nicht der Meinung, daß das
„laisser faire, laisser aller“, das „reine Manchestertum in der
Politik“ ..., daß das im Staat, namentlich in dem monarchischen,
landesväterlich regierten Staat Anwendung finden könne ... Meiner
Meinung nach liegt der Sieg über die lügenhaften Versprechungen und
schwindelhaften Ideen, mit welchen die Führer der Sozialdemokratie
die Arbeitermassen ködern, namentlich in dem tatkräftigen Beweise,
daß der Staat oder wie bei uns der König sich der wirtschaftlich
Schwachen und Bedrängten annimmt: Nicht als Almosen, sondern als
Recht auf Versorgung, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann ...
Die sozialpolitische Bedeutung einer allgemeinen Versicherung der
Besitzlosen erscheint mir unermeßlich; es gilt in der großen Masse
der Besitzlosen eine konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das
Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt. Warum sollte der
Soldat der Arbeit nicht eine Pension haben wie der Soldat oder der
Beamte? Das ist Staatssozialismus, das ist praktisches Christentum in
gesetzlicher Betätigung. Die Verfasser des Unterrichtsmodells haben diesen Text unwesentlich gekürzt, ihm andererseits einen Nebensatz hinzugefügt (Zeile 6 f.: „zu dessen dynastischer Tradition es zudem gehört“) und ihn dann als Teil der Bismarck-Rede vom 20. März 1884 ausgegeben, die ab Zeile 15 tatsächlich korrekt wiedergegeben ist. Es liegt also eine Quellenmontage vor, die sich weder fachwissenschaftlich noch fachdidaktisch rechtfertigen läßt. Offenbar sind die Autoren nicht auf den
Gedanken gekommen, daß die Quelle in der „Weltgeschichte im Aufriß“
nach demselben Prinzip entstanden sein könnte, sonst hätten sie sich
vielleicht doch der Mühe unterzogen, den Wortlaut zu überprüfen.
Das ist allerdings schwieriger, als es die dort hinzugefügte
Quellenangabe vermuten läßt. Der Text besteht nämlich aus nicht
weniger als fünf Quellensplittern, von denen sich nur drei wie
angegeben in dem Buch von Rothfels finden: Ich habe
das Gefühl, daß der Staat auch für seine Unterlassungen
verantwortlich werden kann. Ich bin nicht der Meinung, daß das
„laisser faire, laisser aller“, das reine Manchestertum in der
Politik“ ...., daß das im Staat, namentlich in dem monarchischen,
landesväterlich regierten Staat Anwendung finden könne ...
(Reichstagsrede vom 2. April 1881). Zwischen die beiden Sätze vom 26. Juni 1881 wurde folgende
Äußerung eingeschoben: Die sozialpolitische Bedeutung einer allgemeinen Versicherung der Besitzlosen erscheint mir unermeßlich; es gilt in der großen Masse der Besitzlosen eine konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt. Hierbei handelt es sich um eine recht freie Wiedergabe von Notizen Bismarcks aus dem Dezember 1880, die in der Friedrichsruher Ausgabe wie folgt ediert sind: Die sozialpolitische Bedeutung einer
allgemeinen Versicherung der Besitzlosen wäre unermeßlich. Das
[Tabaks]Monopol kann 100 Millionen bringen und diese Summe würde
hinreichen, in der großen Masse der Besitzlosen die konservative
Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit
sich bringt.[4] Am
Schluß der Quellenmontage schließlich steht der Satz „Das ist
Staatssozialismus, das ist praktisches Christentum in gesetzlicher Betätigung“
- ein Gedanke, den Bismarck wiederholt geäußert hat. Nach dem bisher
gewonnenen Einblick in die Editionstechnik der Herausgeber dürfte es
müßig sein, ihn in dieser Formulierung einer bestimmten Quelle
zuweisen zu wollen. Leider ist dies nicht der einzige
Fall, in dem die editorische Sorgfalt der „Weltgeschichte im Aufriß“
zu wünschen übrig läßt. Im
selben Band findet sich ein längerer Text zur Imperialismustheorie,
der laut Überschrift aus Lenins Werk „Der Imperialismus als höchstes
Stadium des Kapitalismus“ (1917) stammt.[5] Er wird nach einer bekannten
Quellensammlung
von Iring Fetscher zitiert.[6] Fetscher hat dort insgesamt elf Auszüge aus Lenins Werken
zusammengestellt und jeweils mit Überschriften und Quellenangaben
versehen. Von diesen Auszügen stammen jedoch nur sieben aus der
Monographie von 1917. Drei finden sich in „Der Imperialismus und die
Spaltung des Sozialismus“, einer in „Über eine Karikatur auf den
Marxismus“.[7] Die Herausgeber der „Weltgeschichte im Aufriß“ haben
zehn dieser elf Auszüge - teilweise gekürzt - als fortlaufenden Text
abgedruckt und alle zusammen als Teil von Lenins Imperialismus-Buch
von 1917 ausgegeben. Auch wissenschaftliche Sekundärtexte sind in diesem Schulbuch vor tiefgreifenden Bearbeitungen nicht sicher. Im dritten Band findet sich ein Text von Reinhard Kühnl zur „Entwicklung und Struktur faschistischer Bewegungen“, als dessen Quelle das seinerzeit verbreitete Taschenbuch „Formen bürgerlicher Herrschaft“ angegeben ist.[8] Wer die angegebenen Seiten (77 ff.) aufschlägt, sucht allerdings vergeblich nach dem im Schulbuch abgedruckten Text. Erst allmählich wird deutlich, daß es sich hier überwiegend um eine freie Zusammenfassung ausgewählter Abschnitte aus dem Kapitel „Entwicklung und Struktur faschistischer Bewegungen“ handelt. Daran schließt sich ein als solcher noch erkennbarer Textblock aus dem Kapitel „Faschistische Herrschaftssysteme“ an, in dem in fünf Punkten deren soziale Funktion zusammengefaßt ist. Auch er hat jedoch durch mehrere nicht gekennzeichnete Auslassungen sowie einen längeren Einschub unklarer Herkunft unter Punkt 2 Veränderungen erfahren. Bemerkenswert erscheint auch, daß anstelle der „Oberklassen“, von denen Kühnl spricht, im Schulbuch der Singular „Oberklasse“ erscheint. Es muß offen bleiben, ob hier ein schlichtes Versehen vorliegt oder aber der Plural dem Herausgeber theoretische Probleme bereitete. Die Aussage einer Quelle kann auch durch irreführende
Angaben über deren Urheber verfälscht werden. Ein markantes Beispiel
hierfür findet sich in einem Arbeitsbuch des Bayerischen
Schulbuch-Verlages. Dort ist die bekannte Petition vom November 1932
abgedruckt, mit der sich Industrielle, Bankiers und Großagrarier bei
Hindenburg für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler einsetzten.[9] Für die Interpretation dieses Dokuments ist die Tatsache
von Bedeutung, daß von den 40 vorgesehenen Unternehmern nur rund
die Hälfte die Eingabe unterzeichnete und gerade mehrere Prominente
sich zurückhielten.[10] Dennoch erscheinen unter dem Schulbuchtext Krupp,
Siemens, Robert Bosch und Vögler (neben fünf weiteren Unternehmern)
als Unterzeichner, obwohl sie nicht
unterschrieben haben. Andererseits werden von den tatsächlich an
der Petition beteiligten Personen nur fünf genannt. Die aus einer
obskuren Quelle übernommene Namensliste führt dazu, daß Schüler
und Lehrer, die mit der Materie nicht näher vertraut sind, ein
schiefes Bild von der Haltung deutscher Großindustrieller gegenüber
dem Nationalsozialismus gewinnen. Angesichts der Kontroverse um
diese Thematik liegt die Vermutung nahe, daß hier absichtlich
manipuliert wurde, doch läßt sich der Fehler ebenso auf mangelnde
Fachkompetenz der Herausgeber zurückführen. Genug
der Beispiele. Sie sollten
gezeigt haben, auf welch schwankendem Boden sich bei einigen Schulbüchern
ein Geschichtslehrer bewegt, der auf die Authentizität der
abgedruckten Quellen und Sekundärtexte vertraut. Bei der
„Weltgeschichte im Aufriß“ mag die Eile, mit der die ersten Bände
Mitte der 1970er Jahre auf den Markt gebracht wurden, einiges erklären;
Fazit bleibt, daß bei der Benutzung dieses verbreiteten
Unterrichtswerkes große Vorsicht geboten ist. Andererseits kann man
von einem Lehrer im Alltagsbetrieb kaum erwarten, daß er alle für
den Unterricht vorgesehenen Texte quellenkritisch überprüft. Das
gilt auch bei der Erstellung von Abiturvorschlägen, wenngleich hier
eine besonders sorgfältige Prüfung des Materials wünschenswert
erscheint. Um so mehr sollten sich die Verfasser von Schulbüchern und
Unterrichtsmodellen verpflichtet fühlen, das gesamte Material nach
dem Original oder (bei Archivalien oder anderen schwer zugänglichen
Quellen etwa) nach einer wissenschaftlich zuverlässigen Edition zu
zitieren. Die Einhaltung dieses Standards wiederum müßte von den mit
der Prüfung von Schulbüchern beauftragten Gutachtern bzw.
Kommissionen angemessen berücksichtigt werden. Nur so läßt sich
eine kumulative Verfälschung historischer Quellen für Unterrichtszwecke vermeiden, wie sie am Bismarck-Text
aus dem Wuppertaler Unterrichtsmodell exemplarisch aufgezeigt wurde.
Sollte es dagegen üblich werden, Quellen und Darstellungen nach
Schulbüchern zu zitieren, die diese nach Schulbüchern zitieren usw.,
dann kann leicht der Punkt erreicht werden, wo das Ergebnis nicht mehr
von einem fiktiven Text im eingangs bezeichneten Sinne zu
unterscheiden ist. Anmerkungen [1] Werner Ripper: Quellen im Unterricht. In: Gerold Niemetz (Hrsg,):
Lexikon für den Geschichtsunterricht. Freiburg/Würzburg: Ploetz
1984, S. 158‑163, hier S. 161.
M 14 f Bismarck
- Sozialgesetzgebung Aus
einer Reichstagsrede
Berlin, 20. März 1884 Ich habe das Gefühl, daß der Staat für
seine Unterlassungen verantwortlich werden kann. Ich bin nicht der
Meinung, daß das „laisser faire, laisser aller“, das „reine
Manchestertum in der Politik“ im Staat, namentlich im monarchischen,
landesväterlich regierten Staat Anwendung finden könne. Meiner
Meinung nach liegt der Sieg über die lügenhaften Versprechungen und
schwindelhaften Ideen, mit welchen die Führer der Sozialdemokratie
die Arbeitermassen ködern, namentlich in dem tatkräftigen Beweise,
daß der Staat oder wie bei uns der König, zu dessen
dynastischer
Tradition es zudem gehört, sich der wirtschaftlich Schwachen und Bedrängten
annimmt. Nicht als Almosen, sondern als Recht auf Versorgung, wo der
gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann ... Die sozialpolitische
Bedeutung einer allgemeinen Versicherung der Besitzlosen erscheint mir
unermeßlich; es gilt in der großen Masse der Besitzlosen eine
konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der
Pensionsberechtigung mit sich bringt. Warum sollte der Soldat der
Arbeit nicht eine Pension haben wie der Soldat oder der Beamte? Das
ist Staatssozialismus, das ist praktisches Christentum in gesetzlicher
Betätigung. ... Der eigentliche Beschwerdepunkt des
Arbeiters ist die Unsicherheit seiner Existenz; er ist nicht sicher,
daß er immer Arbeit haben wird, er ist nicht sicher, daß er immer
gesund ist, und er sieht voraus, daß er einmal alt und arbeitsunfähig
sein wird. Verfällt er aber der Armut auch nur durch eine längere
Krankheit, so ist er darin nach seinen eigenen Kräften vollständig
hilflos, und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine
eigentliche Verpflichtung außer der ordinären Armenpflege nicht an,
auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat.
Die ordinäre Armenpflege läßt aber viel zu wünschen übrig,
namentlich in den großen Städten, wo sie außerordentlich viel
schlechter als auf dem Lande ist. Wenn wir in den Berliner Zeitungen
lesen von Selbstmord aus Nahrungssorgen, von Leuten, die direkt
Hungers gestorben sind und sich aufgehängt haben, weil sie nichts zu
essen gehabt haben, von Leuten, die in der Zeitung ankündigen, sie wären
obdachlos hinausgeworfen und hätten kein Unterkommen, so sind das
lauter Dinge, die wir vom Lande nicht kennen und nicht verstehen ... Für
den Arbeiter ist das immer eine Tatsache, daß der Armut und der
Armenpflege in einer großen Stadt zu verfallen gleichbedeutend ist
mit Elend, und diese Unsicherheit macht ihn feindlich und mißtrauisch
gegen die Gesellschaft. Das ist menschlich nicht unnatürlich, und
solange ihm der Staat da nicht entgegenkommt, oder solange er zu dem
Entgegenkommen des Staates kein Vertrauen hat, solange ihm dies
Vertrauen zur Ehrlichkeit des Staates durch die Verdächtigungen der
Regierung genommen wird, da wird er, wo er es finden mag, immer wieder
zu dem sozialistischen Wunderdoktor laufen, ... und ohne großes
Nachdenken sich von ihm Dinge versprechen lassen, die nicht gehalten
werden. Deshalb glaube ich, daß die Unfallversicherung, mit der wir
vorgehen, sobald sie namentlich ihre volle Ausdehnung bekommt auf die
gesamte Landwirtschaft, auf die Baugewerke vor allem, auf alle
Gewerke, wie wir das erstreben, doch mildernd auf die Besorgnis und
auf die Verstimmung der arbeitenden Klassen wirken wird. Ganz heilbar
ist die Krankheit nicht, aber durch die Unterdrückung äußerer
Symptome derselben durch Zwangsgesetze halten wir sie nur auf und
treiben sie nach innen. Darauf allein kann ich mich nicht einlassen. Text bis Zeile 13 aus: Weltgeschichte im Aufriß, Bd. 2, Frankfurt/Main 1974, S. 154; ab Zeile 14 aus: W. Kampmann (Hrsg.), Bismarck, Paderborn 1967, S. 108 f. |
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