Rezensionen zu
Rainer Bölling, Volksschullehrer und Politik. Der Deutsche Lehrerverein
1918-1933. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 32.) Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1978, 306 S.
Hagen Schulze
Die Vorstellung gehört zu den herrschenden Stereotypen der
Geschichte der Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie sei
vornehmlich daran gescheitert, dass ein konservativ gestimmter
Beamtenapparat und somit auch eine restaurativ gesonnene Lehrerschaft
aus der wilhelminischen Ära übernommen worden seien, die das ihre zum
Scheitern der Republik beigetragen hätten. Ist diese These schon, was
die staatliche Bürokratie angeht, in jüngerer Zeit verschiedentlich
mit Fragezeichen versehen worden, wenngleich hinreichende Untersuchungen
noch ausstehen, so erweist die Münsteraner Dissertation Rainer Böllings
für den Fall der Volksschullehrer deren völlige Haltlosigkeit. Der Vf.
geht auf einer breiten Quellengrundlage und methodisch vorzüglich
reflektiert vor, er analysiert die soziale Lage der Volksschullehrer vor
1918 und deren Veränderungen während der Weimarer Zeit anhand der
wesentlichen Parameter mit wohlausgewertetem statistischem Material, um
anschließend die Entwicklung des Lehrerverbandswesens seit 1918 und
seine Verflechtungen mit den politischen Parteien zu beleuchten. Den
Kern der Arbeit bilden zwei fallstudienartig ausgearbeitete Kapitel, in
denen die Veränderung
der politischen Mentalität der Volksschullehrerschaft an
konkreten Einzelproblemen sichtbar wird, an den Fällen der
Auseinandersetzungen um das Reichsschulgesetz und des Kampfes um die
Akademisierung der Lehrerausbildung. Das Ergebnis dieser Betrachtung aus
mehreren Blickwinkeln lautet: die in ihrer Mehrzahl linksliberal
orientierte Volksschullehrerschaft hoffte nach der Novemberrevolution,
im neuen Staat ihre lange gehegten Zielvorstellungen einer materiellen
und sozialen Besserstellung verwirklichen zu können. Dazu gehörte die
Hoffnung auf die Einführung der weltlichen Einheitsschule als
Regelschule und die Vereinheitlichung der gesamten Lehrerschaft auf der
Grundlage einer obligatorischen Hochschulausbildung. Diese Hoffnung begründete
die enge Affinität der meisten Volksschullehrer zur Deutschen
Demokratischen Partei, die relativ starke Vertretung der Volksschullehrerschaft
in den sozialdemokratischen und demokratischen Parlamentsfraktionen und
somit auch generell ihre Option für den Weimarer Staat. Die
Aufstiegserwartungen wurden jedoch weitgehend enttäuscht;
Einheitsschule und einheitlicher Lehrerstand, also die Gleichstellung
mit den Gymnasiallehrern, blieben ein Traum, und die Emanzipation der
Volksschulen von kirchlichem Einfluß scheiterte am starren Widerstand
der Zentrumspartei. So ergab sich erst im Verlaufe der 20er Jahre jenes
Mittelstandssyndrom der enttäuschten Aufstiegshoffnungen, der
Proletarisierungsfurcht und der materiellen Nöte auch für die
Volksschullehrerschaft, das diese wie andere Mittelstandsgruppierungen
anfällig für die Versuchung des Nationalsozialismus machte. Diesen
Ablauf schildert der Vf. sachlich und methodisch überzeugend, nüchtern
reflektiert und in einer klaren, unprätentiösen Sprache: ein beispielhaftes
Stück Sozialgeschichtsschreibung, das über seinen eigentlichen
Gegenstand hinaus wesentliche Einsichten zur Mittelstandsproblematik der
Weimarer Zeit vermittelt.
Historische Zeitschrift Bd. 230, 1980, S. 487 f.
Wolfgang Neugebauer
Ausgehend von der neueren Diskussion um die politische Rolle des
Mittelstandes in der Weimarer Republik untersucht die Münsteraner Diss.
von Rainer Bölling Struktur, Funktion, schulpolitische Wirkung und
Schicksal des Deutschen Lehrervereins, der 1922 und 1927 61 % der Lehrkräfte,
die an den Volksschulen Deutschlands tätig waren, organisierte (S. 59;
1932: 56 %). Nach einer gelungenen und auf das Gesamtwerk sinnvoll
bezogenen Analyse der beruflich-sozialen Lage der Volksschullehrer vor
und in der Weimarer Republik sowie nach einem Überblick über die vor
und nach 1918 entstandenen weiteren Lehrerverbände wird die
Organisation, die Mitgliederstruktur, das Programm und die Frage der
gewerkschaftlichen Tätigkeit des Deutschen Lehrervereins dargelegt. B.
weist nach, dass die Volksschullehrer mehrheitlich durchaus auf der
Grundlage des 1918/19 gebotenen »Volksstaats« standen, mochte auch ein
unterschwelliges Unbehagen über die Rolle der Parteien in der Idee
eines starken Kulturstaats angelegt sein (S. 96, S. 98, S. 121). Überzeugend
wird aus der programmatischen Disposition und über die personelle
Verzahnung die wichtige Einsicht in die Tatsache erarbeitet, dass der
Deutsche Lehrerverein durch eine starke Präferenz für den linken
Liberalismus (DDP) und in zweiter Linie für die SPD gekennzeichnet
wurde (etwa S. 109, S. 112 f., S. 117 u. ö.), Beziehungen, die ‑
wie in zwei Fallstudien zur Frage des Reichsschulgesetzes und der
Neuordnung der Volksschullehrerbildung überraschend deutlich wird
‑ im schulpolitischen Kampf wiederholt eingesetzt wurden (s. S. 145
f., S. 167, S. 186 und Anm. 27 auf S. 273). Zu Recht hat Hagen Schulze
(s. seine Besprechung zu Böllings Buch in: Historische Zeitschrift, Bd.
230,1980, S. 487 f.) hervorgehoben, dass diese Resultate der stereotypen
Behauptung, die Republik von Weimar sei an der ungesiebt aus dem
Kaiserreich übernommenen konservativen Beamtenschaft zerbrochen, für
die wichtige Gruppe der Volksschullehrer strikt widersprechen, ja diese
hier widerlegen. Erst seit 1929, als die Enttäuschung über die nicht
erreichten schulpolitischen Ziele wie Einheitsschule und einheitlicher
Lehrerstand (Rolle des Zentrums!) sowie Sparverordnungen von Reich und Ländern
die Integrationskraft des Lehrervereins schwächten, ist ein
Vertrauensbruch zwischen größeren Teilen der Volksschullehrer und der
Demokratie von Weimar eingetreten, wobei gerade die wirtschaftlich
besonders hart getroffenen und bedrohten Junglehrer das
nationalsozialistische Element stärkten (S. 190 f., S. 194, S. 202 f.,
S. 205). So haben auch »die Lehrerschaft und ihre Organisationen den Übergang
ins Dritte Reich ohne nachhaltigen Widerstand vollzogen« (S. 224) und
die Gleichschaltung ihrer Verbände mitgemacht.
Diese materialreiche und mit großer
Präzision gearbeitete Studie stößt in einen bisher weitgehend den
verbandseigenen Darstellungen vorbehaltenen Bereich vor, doch sind die
Ergebnisse - dies dürfte schon deutlich geworden sein - von durchaus
allgemeinem Wert für die Geschichte der Weimarer Zeit, und dies nicht
nur auf dem Gebiet der Schulpolitik, indem es dem Vf. gelingt, die
vorliegenden Untersuchungen (etwa das grundlegende »Reichsschulgesetz«-Buch
von Günther Grünthal, 1968) auf das glücklichste zu ergänzen.
Vornehmlich gestützt auf eine umfangreiche zeitgenössische und schwer
erreichbare Literatur (das Vereinsarchiv ist verloren, S. 12) und
angereichert durch unveröffentlichtes Material insbesondere aus dem
Bundesarchiv und dem DAZ Potsdam, ist B. eine mustergültig zu nennende
Biographie eines Interessenverbandes geglückt, und dies nicht zuletzt
deshalb, weil die Einbettung des besonderen Untersuchungsgegenstandes in
die gesamthistorische Zeitproblematik überzeugend gelingt (etwa S. 32
f. zur Bedeutung organisierter Interessen seit dem Kaiserreich, im
Anschluss an Hans-Jürgen Puhle). Allenfalls wäre angesichts der Arbeit
Grünthals eine straffere Darstellung der Verhandlungen um das
Reichsschulgesetz wünschenswert gewesen; auch scheinen die absoluten
Zahlen zu der Wahl des Bezirkslehrerrats von Alt-Berlin im Jahre 1920
auf S. 192 nicht zu stimmen ‑ doch dies sind nur unbedeutende
Monita. Einen zentralen Beitrag zur Geschichte des deutschen Schulwesens
unterhalb der staatlichen Entscheidungsebene geliefert zu haben gehört
zu den wichtigsten Verdiensten dieses Buches.
Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands
30, 1981, S. 250 f.
Michael H. Kater
The author examines the
socio-political environment of German public school teachers from the
immediate pre World War I phase to the coming of the Third Reich. In his
fluently written monograph, Rainer Bölling devotes much space to
organizational history, and in the center of his examination he places
the German Teachers' League (Deutscher
Lehrerverein), which comprised about 62 percent of all organized
German primary school in 1907 and 55 percent in 1927. After
sketching the situation of teachers before World War I, Bölling moves
on to a brief characterization of the main teachers' organizations
during the Weimar republican era. An entire chapter is devoted to the
socio-political and pedagogical objectives of the teachers’ league. A
further chapter deals with the interrelationship between the league and
Weimar political parties. Appropriate attention is paid to the teachers'
attitude concerning contemporary school legislation under the
jurisdiction of the regional (Länder)
governments, namely Prussia, and the critical issue of teacher
training. In this latter area Bölling can report some progress for the
teachers inasmuch as university norms were introduced in Thuringia into
the training process. That this success was short-lived turned out to be
one of several disappointments for primary teachers in the republic, who
were striving to improve their academic qualifications, their material
standard of living, and, consequently, their social status, especially
vis-à-vis the highly educated upper school teachers who continued to
look down upon their lower-school colleagues. The last chapters of the
book are dedicated to the primary school teachers' struggle with adverse
conditions during the economic depression at the end of the 1920s and
the (resultant) attraction of the Nazi Party.
To this reviewer, the greatest merit of the
study lies in the fact that Bölling has authoritatively dispelled the
old myth of the German primary teachers' predilection for right-radical
ideologies. As the author convincingly shows, the teachers were much
more prone to adhere to bourgeois-liberal parties such as the DDP and,
further to the left, the SPD. Yet
one could argue
that, since Bölling has
only dealt with the members of the German Teachers' League, he has
disregarded anywhere from 30 to 45 percent of the
professional group as a whole. He has thus raised the question of the
representativeness of his sample. Perhaps it would have been wiser to
reverse main and subtitle in this case: this is really a work about the Lehrerverein that tells the
reader much about “public school teachers and politics” in the
period under discussion.
Without question, this book
constitutes an important addition to the growing stock of sociohistorically
oriented monographs whose task it is to focus on specific (professional)
subgroups of German society and to examine in detail their sentiments
and patterns of behavior with regard to the various political currents
of the day. It is to be hoped that more studies of this nature,
concentrating on upper school teachers, lawyers, physicians, and other
closely knit interest groups will follow this important volume.
American Historical Review 85, 1980,
p. 152-153