Sparpolitik im
Bildungswesen. Vergessene Lektionen der Geschichte
in: Pädagogik, Heft 5/1994, S. 28–30
Die Bundesrepublik befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte, und es zeichnet sich ab, daß
auch das Bildungswesen einen Teil der daraus resultierenden Lasten wird tragen müssen. Die Diskussion um die Verkürzung
der gymnasialen Schulzeit steht stellvertretend für ein Paket von Sparmaßnahmen, die manchem noch vor wenigen Jahren kaum
vorstellbar erschienen. Doch was heute an Kürzungen bereits umgesetzt ist oder noch diskutiert wird, ist keineswegs neu,
sondern findet in der Schulgeschichte dieses Jahrhunderts frappierende Parallelen.
In Sparhausen, wo die Schulverhältnisse wenig
günstig sind, muß eine zweiklassige Schule eingerichtet werden.
Die
respektable Länge des Lehrers Bakel kommt der Gemeinde sehr zustatten
und macht die Anstellung eines zweiten Lehrers gänzlich
überflüssig.
Karikatur: Oberländer 1892
Wer in Lehrerzeitungen aus den ersten Nachkriegsjahren blättert, stößt schnell auf Artikel über Sparmaßnahmen im
Schulwesen. Sie zeigen, daß das Bewußtsein der Zeitgenossen eher von materieller Not als von der Erfahrung eines
wirtschaftlichen Aufschwungs geprägt war. Das später zum Mythos gewordene "Wirtschaftswunder" machte erst in den fünfziger
Jahren bildungspolitische Errungenschaften wie Schulgeldfreiheit möglich, die vielen heute als selbstverständlich
gelten. Noch 1955 erschien ein vom Präsidenten des Bundesrechnungshofes angeregtes Buch, in dem die
schulpolitischen und schulfinanzpolitischen Erkenntnisse des früheren
Reichssparkommissars aufgearbeitet wurden. In dieser Funktion hatte der Präsident des Rechnungshofes des Deutschen Reiches seit
1922 zunächst die Reichsregierung, dann auch Länder und Gemeinden zwecks Verbilligung und Vereinfachung der
Verwaltung gutachtlich beraten. Die Anregung aus der Frühphase der Bundesrepublik beruhte auf der Überzeugung, daß "die in den
Prüfungsberichten niedergelegten Erfahrungen noch immer von aktueller Bedeutung" seien.
Bildungspolitik unter Sparzwang: die Weimarer Republik
Der Reichssparkommissar hatte Ende 1929 Gutachten über die Länder Hessen und Thüringen vorgelegt, nach denen ein bzw.
zwei Drittel der geplanten Einsparungen auf dem Schulsektor
erzielt werden sollten: durch Abbau von Planstellen, Heraufsetzung der Klassenfrequenzen, Erhöhung des Schulgeldes,
Kürzung der Mittel für Schulbauten usw. Diese Vorschläge bildeten den Auftakt einer Sparwelle im Bildungswesen, die in
den nächsten zwei Jahren infolge der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise bislang einmalige Dimensionen erreichte.
Finanzielle Engpässe waren aber schon der Bildungspolitik der zwanziger Jahre nicht fremd. Am wenigsten bekam davon
noch die Volksschule zu spüren, weil seit 1921 die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge eingeschult wurden. So verbesserte
sich in Preußen die Schüler/Lehrer-Relation in den nächsten fünf Jahren von rund 47 auf 37, obwohl fast 7000 Planstellen
dem Personalabbau infolge der Inflation zum Opfer fielen. Leidtragende dieser Maßnahme waren vor allem die an den
Seminaren ausgebildeten Junglehrer, von denen 1926 fast 30 000 keinerlei Beschäftigung im Schuldienst hatten. Dieses
Reservoir arbeitsloser Lehrer bildete aber eine wichtige Voraussetzung für die Schließung der alten Seminare und die
Verlegung der Volksschullehrerausbildung an die Pädagogischen Akademien. Die neue Lehrerbildung brachte wegen der geringen
Kapazität der Akademien auf Jahre hinaus sogar beachtliche Einsparungen mit sich. Dieser Aspekt ist von der auf die
bildungspolitische Bedeutung der Reform fixierten pädagogischen Historiographie lange übersehen worden.
Die höhere Schule hingegen wurde von dem 1923/24 durchgeführten Personalabbau voll getroffen, denn die
geburtenschwachen Kriegsjahrgänge standen hier erst ab 1925 zur Einschulung an. Zudem brachten sie einen geringeren
Entlastungseffekt als in der Volksschule mit sich, weil die Übergangsquote zur höheren Schule - u.a. infolge der
Akademisierung der Volksschullehrerbildung - im Laufe der zwanziger Jahre stark anstieg (auf Reichsebene von etwa 10
auf 14,5 %).
Unter diesen Bedingungen griff das preußische Kultusministerium zu einschneidenden Sparmaßnahmen. Zum Schuljahr
1924/25 setzte es die Pflichtstundenzahl der Studienräte von
24 auf 25 herauf. Da zugleich Altersermäßigungen und sonstige Stundenentlastungen reduziert wurden, belief sich die
durchschnittliche Mehrbelastung nach Berechnungen des Philologen-
verbandes auf 2,2 Wochenstunden. Zunächst nur "bis auf weiteres mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Not des Staates
und der Gemeinden" erlassen, blieb diese Pflichtstunden-
regelung bis zum Beginn der dreißiger Jahre in Kraft.
Als Gegenstück zur Anhebung der Lehrer-Pflichtstundenzahl nahm das Kultusministerium 1924 eine Senkung der SchülerWochenstundenzahl vor. Sie erfolgte im Rahmen der
"Richertschen Schulreform", welche die aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Typen der höheren Schule auf die Idee der "deutschen
Bildungseinheit" zu verpflichten suchte. Die neuen Stundentafeln brachten gegenüber denen von 1901 eine Reduzierung des
Pflichtunterrichts um 3-4 %. In der Denkschrift, die die Motive der Schulreform entwickelte, war von dem dadurch
bewirkten Spareffekt allerdings nicht die Rede. Hier wurde die Kürzung der Stundentafeln allein als Maßnahme gegen "das
Hauptübel unseres Schulwesens" dargestellt: die "Überbürdung" der Schüler. Zusammen mit der Erhöhung der
LehrerPflichtstundenzahl schuf sie aber die Voraussetzung dafür, daß rund 900 Lehrkräfte vorzeitig in den Ruhestand versetzt
werden konnten, was eine Abbauquote von 10,4 % der Festangestellten
bedeutete.
Beide Maßnahmen zusammen besaßen somit einen ähnlich hohen Spareffekt wie eine Verkürzung der höheren Schule auf acht
Jahre. Hierfür hatte sich schon 1922 der Preußische Städtetag "aus zwingenden finanzpolitischen Erwägungen" ausgesprochen,
nachdem die reguläre Schulzeit bis zum Abitur durch die Einführung der vierjährigen Grundschule (1920) um ein Jahr
länger geworden war. Doch diese in die gewachsene Struktur der höheren Schule so massiv eingreifende Forderung ließ sich
in der Weimarer Republik politisch nicht durchsetzen. Auch als in der Weltwirtschaftskrise der Druck der leeren Kassen
weitere Kürzungen erzwang, griff die preußische Unterrichtsverwaltung wieder auf die bewährten, weniger spektakulären
Instrumente zurück.
Schule in der Weltwirtschaftskrise
1931 wurde die Arbeitszeit der Gymnasiallehrer dadurch weiter verlängert, daß es nur noch eine Altersermäßigung ab
dem 50. Lebensjahr gab und die Direktoren zwei Wochenstunden mehr unterrichten mußten. Vor allem aber kam es erneut zu
einer Kürzung der Stundentafeln, die mit 7,5 % rigoroser ausfiel als 1924. Jetzt hatten die Gymnasiasten durchschnittlich
nur noch 29 Wochenstunden zu absolvieren, die dafür 50 statt 45 Minuten dauerten. Eine Erhöhung des Schulgeldes und die
Beschränkung auf zwei Züge sollten zudem den Zustrom zur höheren Schule bremsen, doch ging der infolge der
Wirtschaftskrise ohnehin schon zurück.
Im Bereich der Volksschule kam es nun zu ähnlichen Eingriffen, wenngleich hier die
Einsparungsmöglichkeiten aus strukturellen Gründen begrenzt waren. Denn 1931 besaßen noch
60 % dieser Schulen nur eine oder zwei Klassen, so daß hier weder eine längere Arbeitszeit der Lehrer noch eine Senkung
der Schülerstundenzahl Ersparnisse versprach. Die Pflichtstundenzahl der Lehrer an mehrklassigen Schulen war zudem
schon 1924 allgemein auf 30 (Lehrerinnen 28) angehoben worden. Jetzt wurde diese Bestimmung nur noch einmal bekräftigt
und lediglich das Stundendeputat der Schulleiter von 12 auf mindestens 16 angehoben.
Eine Kürzung der Schülerstundenzahl brachte vor allem an den mehrklassigen städtischen
Volksschulen finanzielle Entlastung. Entsprechend ermächtigte das Kultusministerium im
Februar 1931 die Schulaufsichtsbehörden, eine "Herabsetzung der Stundenzahl um höchstens zwei Stunden in jeder der vier
oberen Klassen der Volksschule" auf Antrag zu genehmigen. Im September wurde diese Regelung auf die ersten drei Jahre der
Grundschule ausgedehnt. An voll ausgebauten achtklassigen Volksschulen bedeutete die Durchführung dieser Kürzungen eine
Senkung der Gesamtstundenzahl um 6,4 % (von 220 auf 206) bzw. um fast eine halbe Lehrerstelle. So sollte der vom
Finanzminister verlangte Abbau von 7000 Stellen ermöglicht werden.
Der Abbau von Planstellen verschärfte die ohnehin chronische Lehrerarbeitslosigkeit der zwanziger Jahre erheblich und
trug dazu bei, einen Teil der Betroffenen in eine Protesthaltung gegenüber dem parlamentarischen
Verfassungsstaat zu treiben, von der vor allem die NSDAP profitierte.
Doch auch die verbeamteten Lehrer hatten neben steigender Arbeitsbelastung in den Schulen massive materielle Einbußen
hinzunehmen. Reichskanzler Brüning setzte mit seiner verfassungsrechtlich wie politisch umstrittenen
Notverordnungspolitik ein "Karussell fortschreitender Besoldungskürzungen" in Gang, das in der Geschichte der Beamtenschaft
ohne Beispiel war.
Durch alle Kürzungen von Reich und Ländern zusammen verloren die nicht besonders hart
getroffenen Lehrergruppen zwischen 1930 und 1932 um 30 % ihres Einkommens, andere sogar 40 %. Zwar sanken auch die
Lebenshaltungskosten im gleichen Zeitraum um nahezu 20 %, doch bedeuteten die Gehaltskürzungen eine empfindliche
Verminderung der Realeinkommen.
Sparmaßnahmen im historischen Vergleich
Vergleicht man die gegenwärtige Diskussion über Sparmaßnahmen im Bildungswesen mit denen der zwanziger und dreißiger
Jahre, so fallen bemerkenswerte Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede ins Auge. Wie man sieht, ist das sparpolitische
Instrumentarium, das den Kultusverwaltungen zur Verfügung steht, im wesentlichen seit langem bekannt und erprobt.
Insofern hätte es keines aufwendigen Gutachtens bedurft, wie es die Landesregierung Nordrhein-Westfalens 1991 von der
Unternehmensberatung Kienbaum eingeholt hat.
Eine für Politiker aller Parteien naheliegende Sparmaßnahme ist es offensichtlich, die Arbeitszeit der Lehrer zu
erhöhen, sei es durch Anhebung der wöchentlichen Pflichtstundenzahl oder durch Abbau von Alters- und sonstigen
Ermäßigungen. Dabei wird gern übersehen, daß die Lehrer an der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung der letzten hundert
Jahre kaum beteiligt waren. Denn wenn Grund- und Hauptschullehrer heute 27 Wochenstunden zu unterrichten haben, so
sind das bestenfalls 10 % weniger als zu Beginn dieses Jahrhunderts. Und die Pflichtstundenregelung für
Gymnasiallehrer war damals in Preußen sogar günstiger als heute in Nordrhein-Westfalen, wo 1993 die Altersermäßigung gekürzt
wurde. In der Industrie hingegen war zu Beginn dieses Jahrhunderts gerade die
60-Stunden-Woche erreicht, während heute allenfalls eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche anvisiert wird.
Als Pendant zur Pflichtstundenzahl der Lehrer hat die Wochenstundenzahl der Schüler wiederholt eine Kürzung
erfahren. Diese Maßnahme hat den Vorteil, daß man sie in der Öffentlichkeit als Beitrag zur Entlastung der Schüler
darstellen kann. So wurde auch 1992 in Nordrhein-Westfalen ver-
sucht, die Kürzung der Stundentafeln in der Sekundarstufe I unter dem Motto "5-Tage-Woche für alle Schüler" zu
vermitteln. Mittlerweile liegt aber das Stundenvolumen des neunjährigen Gymnasiums knapp unter dem der Stundentafeln von
1938, die 279 (Gymnasium) bzw. 273 (Oberschule für Jungen) Wochenstunden auswiesen. Doch diese verteilten sich auf nur
acht Jahre, da die Nationalsozialisten die Dauer der höheren Schule 1937 "aus wichtigen bevölkerungspolitischen Gründen"
verkürzt hatten. Unter Beibehaltung der heutigen Wochenstundenzahlen würde die Streichung eines ganzen Schuljahres
zur kürzesten Regelschulzeit seit 1834 führen, als das Abitur
zur unabdingbaren Voraussetzung für den Zugang zur Hochschule erhoben wurde.
Neben diesen Maßnahmen stellt die Erhöhung der Schüler/Lehrer-Relation bzw. der
Klassenfrequenzen ein variables finanzpolitische Instrument dar, das wiederholt genutzt
worden ist und weiter genutzt wird. Dabei darf freilich nicht vergessen werden, daß heute im Grund- und Hauptschulbereich
nicht einmal halb so viele Schüler auf einen Lehrer entfallen wie noch in den fünfziger Jahren. Im Gymnasium hingegen sind
die Klassenfrequenzen in weit geringerem Maße gesunken. Zudem haben sich Lernvoraussetzungen und Sozialverhalten der
Schüler in den letzten Jahrzehnten aus vielfältigen Gründen tiefgreifend gewandelt, wodurch die konkrete Unterrichts-
situation erheblich schwieriger geworden ist.
Auf der anderen Seite gibt es offenbar einen gewissen Bestand an nicht ohne weiteres revidierbaren
bildungspolitischen Errungenschaften, denn das Schulgeld ist bisher noch nicht wieder als Instrument der Auslese und Beitrag zur
Entlastung der öffentlichen Haushalte ins Gespräch gebracht worden. Ebenso erscheint es heute schwer vorstellbar, daß
etwa die akademische Ausbildung aller Lehrer in Frage gestellt würde, so sehr auch inhaltliche Verbesserungen
angezeigt erscheinen mögen. Allerdings wird man von einigen liebgewordenen Vorstellungen Abschied nehmen müssen. Hellmut
Becker, der kürzlich verstorbene Begründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, hat in einem
letzten Rückblick auf die zwanziger Jahre geschrieben: "Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum entstehen
Bildungsreformen nicht in der Zeit des Überflusses, sondern in der Zeit der Knappheit." Es bleibt zu hoffen, daß sich dieser
Satz in den kommenden Jahren bestätigt; Bedarf an inhaltlichen Reformen im Bildungswesen ist genug vorhanden.
Anmerkungen
Vgl. hierzu mit genauen Quellenangaben Rainer Bölling, Sparpolitik im
Bildungswesen in historischer Perspektive, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 41 (1993), S. 57-68.
Hans Heckel, Schule und Reichssparkommissar. Die schulpolitische und schulfinanzpolitische
Gegenwartsbedeutung der Prüfungsergebnisse des Reichssparkommissars, Berlin/Köln 1955, S. 7. - Siehe ferner: Die
Vorschläge des Reichssparkommissars zur Verwaltungsreform deutscher Länder. Dargestellt von seinen Mitarbeitern, Stuttgart 1931, S. 79-102.
Siehe hierzu im einzelnen R. Bölling, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart (=Kleine Vandenhoeck-Reihe 1495), Göttingen 1983, S. 121 f.
Hellmut Becker/Gerhard Kluchert, Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik,
Stuttgart 1993, S. 375.