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Zu der strukturellen Pflichtstundenerhöhung trat 1997/98 noch die „Vorgriffsstunde“ als bedarfsorientierte Arbeitszeitregelung. Das bedeutet, dass alle Lehrerinnen und Lehrer im Alter von 30 bis 49 Jahren für die Dauer von bis zu sechs Jahren zusätzlich eine Wochenstunde Unterricht erteilen müssen, die nach 2008 verrechnet werden soll, wenn die Schülerzahlen wieder sinken. Die älteren Lehrkräfte wurden hiervon ausgenommen, weil ihnen ja schon die Altersentlastung um eine Stunde gekürzt worden war. Als Ausgleich für die somit zwei Pflichtstunden betragende Arbeitszeitverlängerung empfahl das Ministerium 1996: „Die Lehrerinnen und Lehrer können diese zusätzliche Belastung vermeiden und einen Solidarbeitrag für diejenigen leisten, die eine Beschäftigung als Lehrerin und Lehrer suchen, indem sie einen Antrag auf Herabsetzung der Pflichtstundenzahl stellen und die damit verbundene finanzielle Einschränkung – ca. 4 % pro Pflichtstunde – in Kauf nehmen.“[6] Die Anhebung der Unterrichtsverpflichtung stieß bei den Lehrerverbänden naturgemäß auf heftige Kritik, und der Philologenverband erhob dagegen sogar Klage. Daher gab die Landesregierung Nordrhein-Westfalen 1997 bei der Hamburger Unternehmensberatung Mummert + Partner ein Gutachten in Auftrag, das die Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Schulformen empirisch ermitteln sollte. Zu diesem Zweck wurde eine Stichprobe von ca. 6500 Lehrern an ca. 185 Schulen verpflichtet, über ihren Arbeitsaufwand Buch zu führen. Zur Kontrolle kam ein eigens für dieses Projekt entwickeltes Zeiterfassungsgerät zum Einsatz, das bald als „Pädagochi“ bekannt wurde. Nach Abschluss der Datenerhebung legten Mummert + Partner Anfang Dezember 1998 einen Zwischenbericht vor, der Jahresarbeitszeiten ausweist und damit den Vergleich mit der tariflichen Arbeitszeit im öffentlichen Dienst ermöglicht, die bei 1.700 Stunden liegt:
Jährliche Arbeitszeit der Vollzeitkräfte
in den einzelnen Schulformen
* Standardabweichung: Innerhalb der angegebenen
Stundenabweichung zur Durchschnittsarbeitszeit Hiernach kommen alle Lehrergruppen auf eine – teilweise deutlich – höhere Jahresarbeitszeit als im öffentlichen Dienst. Dieses Zwischenergebnis stützte die Forderung der Lehrerverbände nach Absenkung der Pflichtstundenzahl und passte der Landesregierung nicht ins Konzept. Schließlich war bei der Auftragsvergabe an Mummert + Partner nicht an eine Erhöhung, sondern nur an eine gerechtere „Verteilung der durch das Land NRW zur Verfügung gestellten Ressourcen“[8] gedacht. Daher wurden im Folgenden für verschiedene Aufgabenbereiche (Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Korrekturen von Klassenarbeiten, unterrichtsbezogene Aufgaben, Konferenzen, mehrtägige Klassenfahrten, Klassenleitungsaufgaben sowie Fort- und Weiterbildung) sogenannte „Normaufwände“ festgelegt mit dem Ergebnis, dass nun die Bandbreite der Jahresarbeitszeit von 1.670 Stunden (Hauptschule) bis 1.765 Stunden (Gymnasium) reichte und man beruhigt feststellen konnte: „Damit liegt die gewichtete durchschnittliche Jahresarbeitszeit über alle Schulformen bei 1.718 Stunden und ist damit vergleichbar zur Arbeitszeit im Öffentlichen Dienst.“[9] Die Ergebnisse von Mummert + Partner zeigen, dass Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien und Gesamtschulen, deren Pflichtstundenzahl 1997 erhöht wurde, am stärksten belastet sind. Diese Diskrepanz ist mittlerweile durch die zusätzliche Belastung von Lehrern der gymnasialen Oberstufe mit der Betreuung und Korrektur von Facharbeiten in der Jahrgangsstufe 12 und weitere Neuregelungen im Klausurbereich noch größer geworden, ohne dass das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung in absehbarer Zeit an eine Entlastung der besonders beanspruchten Lehrergruppen denkt. Lediglich die großen Unterschiede innerhalb derselben Schulform, die Mummert + Partner aufgezeigt haben, sollen durch eine kostenneutrale Flexibilisierung der Pflichtstundenregelung ausgeglichen werden. Die schwierige, aber grundsätzlich sinnvolle Aufgabe, den von den unterrichteten Fächern abhängigen Arbeitsaufwand zu gewichten und entsprechend unterschiedliche Pflichtstunden für Lehrer derselben Schulform festzulegen, will das Ministerium allerdings nicht selbst übernehmen, sondern den Schulleitungen überlassen. [10] Wenn dieser Weg beschritten wird, sind von Schule zu Schule unterschiedliche Regelungen zu erwarten, die schließlich – so steht zu befürchten – in Klagen vor Verwaltungsgerichten münden werden.
[6] Ministerium für Schule und Weiterbildung: Schulzeit extra, Dezember 1996, S. 6 [7] Arbeitsstab Aufgabenkritik beim Finanzministerium Nordrhein-Westfalen: Untersuchung zur Ermittlung, Bewertung und Bemessung der Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer im Land Nordrhein-Westfalen, November 1999, S. 3. [8] Ebda,
S. 5. [9] Ebda, S. 8. [10] Weiterentwicklung der Lehrerarbeitszeit - Konsequenzen aus dem Gutachten zur Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer. Gemeinsame Ergebnisse des Dialogs zwischen den Lehrerorganisationen NRW und der Ministerin für Schule, Wissenschaft und Forschung, Juni 2001
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