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Vollständiger Text im 1973 erschien ein Gutachten zur Arbeitszeit der Lehrer, das im Auftrag der Kultus-, Innen- und Finanzministerkonferenz von der Schweizer Firma Knight Wegenstein erstellt worden war und als Grundlage einer angestrebten Harmonisierung der Bestimmungen in den Bundesländern dienen sollte. Die Auswertung der Daten von mehr als 9000 befragten Lehrern ergab, dass die durchschnittliche Arbeitszeit aller Lehrergruppen ca. 45 Stunden pro Woche betrug, wenn man 39 Unterrichtswochen auf 47 tarifliche Arbeitswochen umrechnete.[1] Das lag deutlich über der 1974 im öffentlichen Dienst eingeführten 40-Stunden-Woche und bedeutete somit Handlungsbedarf für die Politiker. Um Alleingänge
einzelner Bundesländer zu vermeiden, schlossen die Regierungen
der Länder 1974 ein Stillhalteabkommen, in dem sie sich verpflichteten,
keine Änderung der Pflichtstundenregelung vorzunehmen; Ausnahmen galten
für eine Herabsetzung der Pflichtstundenzahl für Lehrer an Grund- und
Hauptschulen.[2] Seit
etwa 1978 bemühte sich eine Arbeitsgruppe um ein Regierungsabkommen,
durch das die Arbeitszeit der Lehrer vereinheitlicht werden sollte. Es
kam jedoch nicht zu Stande, zumal gegen die Studie von Knight
Wegenstein angesichts ihres unbequemen Ergebnisses zunehmend
methodische Einwände vorgebracht wurden. Doch auch
andere, allerdings auf schmalerer Zahlenbasis beruhende Untersuchungen
kamen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu ähnlichen Ergebnissen. [3] Vor diesem
Hintergrund erfolgte in Nordrhein-Westfalen zwischen 1987 und 1990 eine
geringfügige Absenkung der Pflichtstundenzahl (nicht zu verwechseln mit
der wöchentlichen Arbeitszeit!), und zwar für Grundschullehrer von 28
auf 27, für Realschullehrer von 27 auf 26,5 und für Gymnasiallehrer
von 24 auf 23,5 Stunden. Das entsprach in etwa der Verkürzung der
Arbeitszeit im öffentlichen Dienst, die seit 1990 bei 38,5 Stunden pro
Woche liegt. Die von Knight
Wegenstein und anderen
ermittelte Mehrbelastung der Lehrer wurde dadurch jedoch nicht
korrigiert. Bald
darauf jedoch ging die Entwicklung – vor
dem Hintergrund der bis 2004 steigenden Schülerzahlen und der
angespannten Lage der öffentlichen Finanzen nach der deutschen Einheit – in
die entgegengesetzte Richtung. Sie wurde in
Nordrhein-Westfalen durch das 1991
vorgelegte Gutachten der Unternehmensberatung Kienbaum bestimmt.
Es empfahl u. a. eine Reduzierung der Altersermäßigung und des
allgemeinen Entlastungskontingents sowie eine Erhöhung der
Pflichtstundenzahl für Gymnasial- und Gesamtschullehrer. Auch andere
Bundesländer griffen jetzt, um den Schülerberg zu „untertunneln“,
zum „bewährten“ Mittel offener oder versteckter Arbeitszeiterhöhung
für Lehrerinnen und Lehrer. [4] 1993
warnte der renommierte Arbeitsmediziner Prof. Wolf Müller-Limmroth, der
schon 1980 eine Studie zur Arbeitsbelastung der Lehrer vorgelegt hatte:
„Wenn ich höre, dass nahezu alle Bundesländer [...] eine Erhöhung
der Unterrichtsmaße der Lehrer [vorhaben], dann befürchte ich auch als
Mediziner, dass hier ein Berufsstand systematisch krankgemacht
wird"[5]. Doch Stimmen wie diese verhallten wirkungslos. In Nordrhein-Westfalen wurden 1993 zusammen mit der Erhöhung der Schülerzahlen je Lehrerstelle zunächst einmal – gemäß Kienbaum – die Altersermäßigungen für Lehrer über 50 Jahre (zwischen ein und vier Stunden) gestrichen bzw. um eine Stunde gekürzt. 1997 stieg dann das Pflichtstundenmaß für Lehrer an Gymnasien und Gesamtschulen um eine, für Realschullehrer um eine halbe Stunde an. Als Ausgleich für die Mehrbelastung sollte die gleichzeitig vorgenommene leichte Reduzierung der Klassenarbeiten und Klausuren dienen. Sie reichte aber bestenfalls dazu, die Reduzierung des Entlastungsstundenkontingents zu kompensieren. Die nordrhein-westfälischen Gymnasiallehrer müssen somit heute im Laufe ihres Berufslebens mehr Unterrichtstunden geben als ihre preußischen Kollegen vor hundert Jahren, ja selbst mehr als in der Finanzkrise nach der Inflation, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt:
Pflichtstundenregelung für Gymnasiallehrer im
historischen Vergleich (Beispiel: Dienstbeginn
mit 30 Jahren)
[1] Knight
Wegenstein, Empirisch-wissenschaftliche Studie über die
Arbeitszeit der Lehrer, 2 Bde, Zürich 1973 [2] Vgl. hierzu: Die
Arbeitszeit der Lehrer.
Zur Überprüfung der Pflichtstundenanhebung für Lehrkräfte in
Nordrhein-Westfalen. Rechtsgutachten im Auftrage des
Philologen-Verbandes Nordrhein-Westfalen, erstattet von Professor
Dr. h.c. Ernst Benda, Präsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.,
und Professor Dr. Dieter C. Umbach, Vors. Richter am
Landessozialgericht a.D., Juristische Fakultät der Universität
Potsdam, 1998, S. 8 f. [3]
Vgl. ebda, S. 9-21, v.a. die Übersicht S. 19. [4]
Vgl. Rainer Bölling,
Sparpolitik im Bildungswesen in historischer Perspektive, in: Recht
der Jugend und des Bildungswesens 41, 1993, S. 57–68, bes. S. 60 f.;
ders.; Sparpolitik im Bildungswesen. Vergessene Lektionen der
Geschichte, in: Pädagogik, Heft 5/1994, S. 28–30 [5] Wolf Müller-Limmroth, Wie Lehrer „systematisch krank gemacht” werden (Interview), in: Die höhere Schule, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, Heft 11, November 1993, S. 15 f. – Vgl. auch den Artikel „Lehrerberuf wird in der Bevölkerung völlig falsch eingeschätzt“ in: Frankfurter Rundschau vom 19.11.1993 . |
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