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Zur Problematik des Lateinunterrichts

"Welche Kenntnisse im Griechischen und Lateinischen bringen die Studenten noch von der Schule mit? Sie bringen das Reifezeugnis mit; offiziell sind ihnen also die Kenntnisse verbrieft, welche reglementarisch für die Reife gefordert sind. Aber sie besitzen diese Kenntnisse in Wirklichkeit durchaus nicht mehr. Die Fähigkeit des Verständnisses beider Sprachen ist seit Jahren stetig heruntergegangen. [...]

Wenn sich die Forderungen, die auf dem geduldigen Papiere stehen, wirklich nicht mehr erfüllen lassen, dann muß man sich wohl oder übel mit einer Fiktion behelfen. Gewiß gibt es noch besonders bevorzugte Schulen, besonders begabte Lehrer und Schüler: aber im allgemeinen werden bereits jetzt die Ziele des Unterrichts im Lateinischen und Griechischen nur noch durch eine Fiktion erreicht. Die Lehrpläne [...] haben die Forderungen nicht wesentlich herabgesetzt: es sollen noch immer ziemlich dieselben Schriftsteller gelesen werden. Was zu deren Verständnis nötig ist, das ist einmal nötig: keine Macht der Welt kann davon etwas abdingen. Folglich wird auch keine Macht der Welt das mit stark verkürzter Arbeitszeit schaffen, was jetzt schon nicht geschafft wird." 

Diese Sätze könnten heute geschrieben sein, wenn sie sich nur auf das Lateinische bezögen. Tatsächlich wurden sie vor über einem Jahrhundert zu Papier gebracht, und zwar 1892 von dem renommierten Altphilologen Professor Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff [1].

Schon 1856 hatte das preußische Kultusministerium Missstände im Lektüreunterricht festgestellt, die recht aktuell wirken: 
"Es ist in den [...] Berichten allgemein als Tatsache anerkannt worden, daß es auf den Gymnasien den Schülern auch der mittleren und oberen Klassen häufig an derjenigen copia verborum im Lateinischen fehlt, deren es besonders zu einem leichten und sicheren Verständnis der Autoren bedarf. Infolgedessen wird die Neigung zum Gebrauch ungehöriger Hilfsmittel, namentlich zur Benutzung gedruckter Übersetzungen und zum Überschreiben der Vokabeln, sowie die Abhängigkeit von dem auch in den obersten Klassen noch neben dem Autor liegenden Vokabelbuch, nicht selten angetroffen und die eigene Befriedigung der Lernenden beim Lesen der Klassiker vermißt. Es soll nicht verkannt werden, daß hierzu auch andere, nicht im Bereich der Schule liegende Übelstände mitwirken; um so mehr ist es aber ihre Pflicht, von den ihr zu Gebote stehenden Mitteln der Gegenwirkung den sorgfältigsten Gebrauch zu machen."
[2]  

Dass solche Klagen über sinkendes Niveau seit langem immer wieder vorgebracht wurden, könnte den Eindruck hervorrufen, sie seien unberechtigt und nur der Einbildung ihrer Urheber entsprungen. Ein Blick in einen lateinischen Abituraufsatz, der 1866 - also wenige Jahre nach dem vorstehenden Text - an einem westfälischen Gymnasium verfasst wurde, ergibt ein anderes Bild.

Was dieser Schüler in seinem Abituraufsatz in lateinischer Sprache schrieb, können heutige Lateinschüler nur mit Mühe verstehen und ins Deutsche übersetzen. Das ist allerdings auch kein Wunder, wenn man sich vor Augen hält, wie der Umfang des Lateinunterrichts bis zum Latinum im Laufe des 19. und 20. Jahrhundert zurückgegangen ist (bis 1924 Preußen, 1938 Deutsches Reich, ab 1950 Nordrhein-Westfalen):

(Die dem Diagramm zugrunde liegenden Daten finden sich in einer Excel-Datei)

 

[1] Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Philologie und Schulreform (1892), in: Reden und Vorträge,
Berlin
31913, S. 99 f.
[2]
Zirkularverfügung  vom 10. April 1856, in. Ludwig Wiese (Hg.), Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen, Berlin 1867, S. 102.